Unfreiwillig frei!

Meine persönliche „Autofrei-Geschichte“ (1)

Aus DER RABE RALF Oktober/November 2018, S. 18

Entspannter zur Arbeit ohne Auto. (Foto: Joe Hawkins/​Wikimedia Commons)

Autofrei leben? Ich? Unmöglich! … dachte ich. Unabhängigkeit, Freiheit, mein kleiner „Sperrmüllschätzetransporter“, mein persönliches „Ichfahrwohinichwillundwannichwill-Taxi“, mein kleiner blauer Freund!

Okay, TÜV, Versicherung, steigende Kosten für Benzin, Werkstatt, waschen-legen-föhnen … Aber das war mir egal, er gehörte mir – nur mir – und brachte mich, wohin ich wollte. Brauchte ich ihn wirklich? Früher ja, mein Weg zur Arbeit war weit und die Verbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln unzumutbar. Inzwischen nein, ich bin umgezogen und habe es nicht weit zur Arbeit – aber was man hat, das hat man.

Und es ist ja auch so bequem mit dem Auto. In zehn Minuten zur besten Freundin, in fünf Stunden an die Ostsee – in 16 Stunden nach Frankreich, im Winter einmal deutlich schneller den Berg runter, als ich wollte …

Umgewöhnen

Dann war er weg – die Vernunft musste siegen – die Kosten wurden zu hoch. Sollte ich auf alles andere verzichten, nur um mir meinen fahrbaren Freund noch halbwegs leisten zu können? Das habe ich so lange getan, bis er fast nichts mehr wert war – so lange, bis es mehr wehtat, ihn am Leben zu erhalten, als ihn loszulassen. Als er dann nicht mehr da war, war das hart. Wochenlang dachte ich jeden Tag, er stände noch immer da draußen vor der Tür.

Ich abonnierte ein Monatsticket für die öffentlichen Verkehrsmittel in der Stadt und holte mein verstaubtes Fahrrad aus dem Keller. Am Anfang habe ich es mehr geputzt als benutzt, aber ich war ja auch eine verwöhnte Ex-Autobesitzerin und musste mich an die neue Situation erst gewöhnen.

Ich musste auch erst lernen, die zehnminütige U-Bahn-Fahrt zur Arbeit zu nutzen, um das Buch weiter in mich einzusaugen, das ich am Vorabend weglegen musste, weil meine Augenlider sich nicht mehr gegen die Erdanziehungskraft wehren konnten. Die Bahn verpasst? Haha, ich schaffe noch ein Kapitel mehr!

Entspannter

Ich bin überhaupt viel entspannter geworden. Losrennen, um die Bahn, die in einer Minute kommt, noch zu erreichen? Ohne mich! Lieber die Zeit besser nutzen bis zur nächsten.

Ich frage mich gerade, ob ich mir in der Vergangenheit je Gedanken darüber gemacht habe, wie viel Zeit ich dabei verplempert habe, Parkplätze zu suchen, Reifen zu wechseln, mein Auto zu waschen oder samstags in der Schlange vor der Autowaschanlage zu hocken, wenn ich mal keine Lust hatte, das selber zu tun.

Scheibenwischanlagenreiniger nachfüllen, TÜV-Termin nicht versäumen, Ölwechsel, Insektenentferner aufsprühen …, vereiste Scheiben freikratzen, zehn Minuten den Motor laufen lassen, bis die Scheiben nicht mehr beschlagen sind …, Politur auftragen und bis zur Erschöpfung für Hochglanz sorgen …

Es geht tatsächlich autofrei, und wenn ich mir die Benzinkosten heute ansehe und die Diskussionen darüber verfolge, erwische ich mich dabei, wie ich etwas schmunzeln muss.

Schadenfroh, ich? Nein, aber frei!

Jessica Hofmann

Lesen Sie hier Teil 2 und Teil 3.


Besser leben ohne Auto

Ratgeber für ein autofreies Leben

Eine autofreie Familie löst selbst in Berlin immer noch Kopfschütteln und ungläubiges Staunen aus. Zu groß scheinen die Hürden, die man ohne eigenes Auto überwinden muss: Einkäufe, Möbeltransport, Regenwetter oder Schienenersatzverkehr. Dennoch sind autofreie Menschen keine Exoten. Denn ein Viertel aller bundesdeutschen Haushalte, in den Großstädten wie Berlin sogar mehr als 40 Prozent, besitzt kein Auto.

Der Ratgeber „Besser leben ohne Auto“ geht auf die häufigsten Fragen zum Leben ohne Auto ein, verrät einige Geheimtipps und macht Mut, sich vom eigenen Auto zu trennen. Die Autorinnen und Autoren vertreten deutlich die Auffassung, dass ein Leben ohne Auto nicht nur befreiend wirkt, sondern auch glücklich macht.

In dem Buch stellen sich auch einige autofreie Menschen vor und berichten von Widrigkeiten und Freuden, Tricks und Strategien ihres autofreien Alltags. Hier wird mit dem weit verbreiteten Vorurteil aufgeräumt, Autofreiheit sei bestenfalls etwas für leicht verschrobene Junggesellen mit Neigung zu exzessivem Radsport.

Für den Raben Ralf haben wir drei Erfahrungsberichte aus Berlin, dem Ruhrgebiet und einem thüringischen Dorf ausgewählt, die nicht oder nur in Auszügen im Buch Platz fanden, aber dennoch wert sind, hier als kleine Serie veröffentlicht zu werden. Den Herausgebern danken wir für die freundliche Genehmigung.

Erfahren Sie etwas über Menschen, die dem scheinbaren gesellschaftlichen Zwang zur Auto-Mobilität ganz entspannt entgegentreten – zu Fuß oder per Pedal – und ein Leben jenseits des Autos entdecken. Vielleicht gehören sie ja zur Avantgarde unserer Zivilisation. Aber eigentlich sind es ganz normale Leute.

Mit den Tipps aus „Besser leben ohne Auto“ könnten auch Sie bald zu den Autofreien gehören.

Die Redaktion

Autofrei leben! e.V. (Hrsg.):
Besser leben ohne Auto
Oekom Verlag, München 2018
128 Seiten, 14 Euro
ISBN 978-3-96238-017-5 


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