Aus DER RABE RALF April/Mai 2023, Seite 16
Die Bedrohungen wachsen, aber auch der Widerstand und der Ruf nach einer Alternative für das Leben
Die Menschheit befindet sich in einer Vielfachkrise. Noch nie stand sie so dicht vor einem Atomkrieg. Sie bewegt sich mit weit offenen Augen immer schneller auf einen großen Krieg, möglicherweise einen Weltkrieg zu. Milliarden, die hier für eine Spirale der Zerstörung und des Tötens ausgegeben werden, fehlen woanders, um Leben zu retten und zu schützen.
Wissenschaftler sprechen längst von der „Alarmstufe Rot“, vom „Klima-Endspiel“, von einem beispiellosen Artensterben, einem globalen Notstand, dem vielfachen Überschreiten planetarer Grenzen, von drohenden Kippprozessen. Sie fordern einen sofortigen Kurswechsel, um die Verpflichtungen des Pariser Klimaabkommens und des Klimaschutzgesetzes einzuhalten.
Der größte deutsche Umweltverband BUND hat Klage gegen die Bundesregierung eingereicht, um sie zur Einhaltung ihrer eigenen Gesetze zu zwingen. Dabei reichen diese Selbstverpflichtungen nicht einmal aus, um die 1,5-Grad-Grenze einzuhalten und eine eskalierende Erderhitzung zu verhindern. Darauf angesprochen, dass die derzeitige Politik rechtswidrig und nicht ökologisch zukunftsfähig ist, sagte Wirtschafts- und Klimaminister Habeck, dass es dann in der Zukunft mehr „negative Emissionen“ geben müsse. Er offenbart damit eine fahrlässige Unkenntnis der naturwissenschaftlichen und juristischen Faktenlage.
Ist Klimaschutz systembedrohend?
Wir sind die letzte Generation, die die Klimakatastrophe noch verhindern kann, sagte einst Barack Obama. Inzwischen können wir sie nur noch begrenzen.
Weshalb zeigen sich aber die EU und Deutschland – selbst mit grüner Regierungsbeteiligung – unfähig und unwillig, die notwendigen Maßnahmen zur Verhinderung einer irreversiblen globalen Katastrophe einzuleiten, obwohl doch gleichzeitig Hunderte Milliarden Euro für zweifelhafte Corona-„Wiederaufbauprogramme“, für Aufrüstung und für fossile Energiesubventionen ausgegeben werden? In der Logik des kapitalistischen Wachstumssystems ist Klimaschutz offenbar nicht „systemrelevant“, sondern systembedrohend, da er ein schnelles „Weniger“, statt des beständigen „Immer mehr“ erfordert.
Es gibt offenbar einen antagonistischen Widerspruch zwischen den dominanten Gegenwartsinteressen, die vorwiegend Wachstums-, Profit- und Konsuminteressen sind, und den Interessen der jungen Generation, der Ärmeren, der Bauern, des globalen Südens und der kommenden Generationen an der Sicherung der Lebensgrundlagen und der Zukunft. Dies ist natürlich auch ein Konflikt zwischen Arm und Reich (Rabe Ralf Juni 2022, S. 23). Das reichste eine Prozent der Weltbevölkerung ist für doppelt so viele Treibhausgase verantwortlich wie die ärmeren 50 Prozent. In der EU verursachen die reichsten zehn Prozent genauso viele Emissionen wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung.
Es ist unübersehbar, dass die aktuelle Politik vor allem zugunsten der Interessen einer kleinen, reichen Minderheit handelt und die Interessen der kommenden Generationen missachtet. Damit wird die Lage immer weiter eskaliert, bis zu einer Klimakatastrophe, die nicht mehr gestoppt oder rückgängig gemacht werden kann. Hier wird kein „Schaden vom deutschen Volke abgewendet“ und es werden auch nicht die Lebensgrundlagen gesichert, sondern das Vorsorgeprinzip wird aus aktuellen Macht- und Profitinteressen sträflich missachtet – insofern ist das (Nicht-)Handeln nicht nur verantwortungslos, sondern rechtswidrig. Diese Zukunftsblockade spaltet die Gesellschaft und wird durch die Klimakrise, die Aufrüstung, aber auch durch die nur vermeintlich klimafreundliche „grüne Modernisierung“ ständig verschärft und ist in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturen offenbar nicht auflösbar.
Krieg oder Frieden?
Beim derzeitigen Endspiel um die Zukunft geht es von daher nicht nur ums Klima, sondern um reale Macht, es geht um Gerechtigkeit und Gestaltungsmacht für die kommenden Generationen, um eine dauerhaft mögliche, zukunfts- und friedensfähige Gesellschaft. Der erste Schritt ist vielleicht, sich darüber klar zu werden, dass unsere vermeintliche Normalität keineswegs normal ist, sondern Alarmstufe Rot für das Leben, den Planeten und die Menschheit bedeutet. Unsere Wirtschafts- und Lebensweise ist nicht nur imperial, sondern auch zerstörerisch und bedeutet faktisch einen permanenten Krieg gegen das Klima, die Biosphäre und andere Kulturen, der gerade dabei ist, in seine heiße Phase überzugehen.
Aber die Menschen werden aktiv, bekennen Farbe und fordern eine andere Politik – gegen eine rechtswidrige Energiepolitik (wie in Lützerath), gegen eine klimafeindliche Verkehrspolitik (wie die Letzte Generation und andere) oder gegen Aufrüstung und Waffenexporte. Tarnte sich die Friedenstaube auf dem letzten Rabe-Ralf-Titelblatt noch als Stadttaube, so war sie auf den progressiven Friedensdemos der vergangenen Monate auf vielen Transparenten, Plakaten und Ansteckern unübersehbar. Das macht Mut und war vielleicht ein Aufbruch und der Beginn einer neuen Friedens- und Bürgerbewegung. Höchste Zeit wäre es. Auch dass sich Friedens- und Klimabewegung mit vielen anderen Initiativen zusammenfinden, um den vor zwei Jahren verpassten „Aufbruch 21“ doch noch nachzuholen (Rabe Ralf Februar 2021, S. 15). Frieden – auch mit der Natur –, Klimaschutz, Gewaltfreiheit und Gerechtigkeit könnten und sollten dabei die verbindenden Gemeinsamkeiten sein, denn nur eine Gesellschaft, die sich in diese Richtung verändert, wird den Herausforderungen der Gegenwart gewachsen sein und Lösungen statt neuer Probleme produzieren.
Fossile Konterrevolution
Die Akteure einer entfesselten weltweiten Konkurrenz wollen auf der vermeintlichen Erfolgsspur bleiben und sind unfähig und unwillig zu erkennen, dass ihr fossiler „Way of Life“ immer mehr Zerstörung produziert und in den Abgrund führt.
Allein 636 Lobbyisten für Öl und Gas nahmen im vergangenen November an der 27. UN-Klimakonferenz im ägyptischen Scharm el-Scheich teil – mit Erfolg. Deutschland bahnte erfolgreich Erdgaslieferungen aus Afrika an und war auch in Katar, dem Gastgeber des nächsten Klimagipfels, damit erfolgreich. Es scheint sich eine neue Allianz zwischen reichen Öl- und Gasförderstaaten und westlichen Industrieländern zu etablieren. Das gastgebende, vom Westen unterstützte ägyptische Militärregime tat zudem alles, um substanzielle Ergebnisse in Scharm el-Scheich zu verhindern. So wurde ein Vorschlag Indiens und 80 weiterer Länder zum Ausstieg aus allen fossilen Brennstoffen regelrecht sabotiert. Es scheint nicht allzu ernst zu sein mit dem Ausstieg aus den fossilen Energien, wenn damit erstmal nur die Kohle gemeint ist.
Auch fragt sich, was von einem westlichen „Klimaklub“ zu halten ist, wenn dieser seine Mitglieder durch eine Art CO₂-Steuer schützt, nachdem er in den letzten Jahren die „schmutzige“, emissionsintensive Produktion ausgelagert hat. Der geplante CO₂-Grenzausgleich der EU dient weniger dem Klimaschutz, sondern ist klassischer Protektionismus, der den eigenen technologischen Vorsprung nutzt, um die Konkurrenten zu benachteiligen. Beim Handelskrieg USA–China läuft es ähnlich.
Die Europäische Union, die G7-Staaten und Australien versuchen zudem einen Preisdeckel für russisches Öl zu erzwingen, neuerdings auch für Ölprodukte wie Kerosin und Diesel, und setzen damit auch die Opec unter Druck. Der Westen versucht damit offenbar nicht nur Putin in die Knie zu zwingen, sondern gleichzeitig auch ein neues Preiskartell zu installieren, um fossile Energie noch billiger zu machen. Statt eine globale CO₂-Steuer und eine Verteuerung der fossilen Energien zu befördern, um die Emissionen herunterzufahren, geht es um die Erhöhung der globalen Konkurrenzfähigkeit durch Verbilligung der Energiekosten – Klimaschutz ade.
Das ist eine Rückkehr zu politischen, ökonomischen und finanziellen Methoden vom Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Wohin diese geführt haben, müsste eigentlich noch in schrecklicher Erinnerung sein. Doch Aufrüstung, direkte und indirekte Kriegsführung und Expansion sind als „Auswege“ aus der Krise schon wieder salonfähig.
Wer auch letztlich dieses finale „Great Game“ um Macht, Märkte, Rohstoffe und Energie gewinnen wird, am Ende werden wir alle Verlierer sein, weil wir das eigentlich wichtige „Spiel“ mit dem System Erde krachend verlieren werden – ohne Chance auf einen Neustart oder eine Wiederholung.
Beschleunigung des Klimawandels
Die Erderhitzung beschleunigt sich. Die Klimakatastrophe wird bald irreversibel sein. Sie ist wahrscheinlich bereits ein sich selbst verstärkender und wechselseitig aufschaukelnder Prozess – wir befinden uns also schon auf dem abschüssigen Weg in eine lebensfeindliche Klimahölle, auf dem es nicht mehr vorwärts, sondern nur noch abwärts geht und auf dem nur noch unter großen Anstrengungen eine Umkehr möglich sein wird, und das auch nicht mehr lange.
Neuere Entwicklungen sind erschreckend. So gibt es einen erneuten Negativrekord beim Schwund des antarktischen Meereises. Das Tempo des Meeresspiegelanstiegs hat sich seit 1993 verdoppelt. In Europa hat sich zwischen 1991 und 2021 die Oberflächentemperatur um 0,5 Grad pro Jahrzehnt erhöht. Tendenz überall steigend. Wir haben die atmosphärische Zirkulation über Europa grundlegend verändert, wie das absonderliche Jo-Jo-Wetter zeigt, das uns im Wechsel arktische Polarluft oder subtropische Warmluft beschert und die Niederschläge verschoben hat. Zuletzt gab es sogar eine Winterdürre in Frankreich und Italien. Wie viel Zeit haben wir also wirklich noch?
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen, der die Bundesregierung berät, hat im vergangenen Juni eine Stellungnahme veröffentlicht: „Wie viel CO₂ darf Deutschland maximal noch ausstoßen?“ Daraus geht hervor: Wenn wir die Erderhitzung mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent auf 1,5 Grad begrenzen wollen, haben wir noch acht Jahre Zeit, um vollständig klimaneutral zu werden. Bei 67 Prozent Wahrscheinlichkeit sind es nur noch vier Jahre und bei 100 Prozent nur noch zwei Jahre. Niemand würde in ein Flugzeug steigen, das mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit abstürzt – geht es um die Klimakatastrophe, scheint ein solches Denken kein Problem zu sein.
Eine Politik des Friedens
Es ist allerhöchste Zeit, zu erkennen, dass in einer endlichen Welt kein unendliches Wachstum möglich ist, aus politischen, ökonomischen und ökologischen Gründen. Ein „Weiter so“ bedeutet früher oder später Krieg und eine irreversible Zerstörung der Lebensgrundlagen. Es gilt einen Weltenbrand gleich in mehrfacher Hinsicht zu verhindern und zu erkennen, dass nur Frieden untereinander und Frieden mit der Natur eine dauerhafte Lösung ist.
Eine Politik zur Verhinderung der Klimakatastrophe und eines finalen Krieges muss ständiges Wachstum als grundfalsch erkennen und benennen, sie braucht den Mut zur unbequemen Wahrheit, sie braucht eine vernunftgeleitete Führung, neue Institutionen und Bündnisse. Eine solche Politik muss den Glauben an höhere Ziele als Geldvermehrung und Konsum erneuern und die Menschen begeistern und aktivieren für das wirklich Wichtige: den Kampf für den Fortbestand des Lebens, für Frieden und für die Verhinderung der ökologischen Katastrophe.
Wir entscheiden jetzt über Leben und Tod, über die Zukunft der vielen Milliarden Menschen, die noch nach uns auf der Erde leben wollen. Der Sinn des Lebens ist, dass Leben weitergeht – wenn wir das vergessen, werden wir zu Dienern des Todes.
Jürgen Tallig
Weitere Informationen: www.earthattack-talligsklimablog.jimdofree.com
Tödlicher Reichtum
Ein Milliardär verursacht so viel Treibhausgase wie eine Million Menschen
125 Milliardäre verursachen so viel CO₂ und andere Treibhausgase wie ganz Frankreich. Jeder von ihnen ist im Durchschnitt wegen seiner Investitionen für so viele Emissionen verantwortlich wie eine Million Menschen aus den ärmeren 90 Prozent der Weltbevölkerung. Das geht aus dem Bericht „Carbon Billionaires“ (CO₂-Milliardäre) hervor, den die Nothilfe- und Entwicklungsorganisation Oxfam veröffentlicht hat.
„Superreiche besteuern“
„Schon die Emissionen, die Milliardär:innen durch eigenen Konsum mit Privatjets, Superjachten und Luxusvillen verursachen, betragen das Tausendfache der weltweiten Pro-Kopf-Emissionen“, sagt Manuel Schmitt, Experte für soziale Ungleichheit bei Oxfam Deutschland. „Wenn man sich außerdem ansieht, was durch ihre Investitionen mitverursacht wird, sind ihre Treibhausgasemissionen um ein Vielfaches höher.“ Die 125 untersuchten Superreichen kommen dann auf einen CO₂-Fußabdruck so hoch wie ganze Staaten. Die wichtige Rolle von extremer sozialer Ungleichheit und die enorme Verantwortung der Superreichen für die Krisen würden in der Politik kaum berücksichtigt, kritisiert Schmitt. „Das muss sich ändern.“
Seine Schlussfolgerung: „Die Superreichen müssen besteuert werden. Investitionen müssen so reguliert werden, dass sich Geldanlagen, die den Planeten zerstören, nicht mehr lohnen.“ Die Regierungen müssten außerdem Unternehmen zu mehr Transparenz und zur radikalen Reduzierung ihrer Emissionen verpflichten.
Gemeinwohl statt Rendite
Wenn Regierungen auf den UN-Gipfeln über Maßnahmen zum Klima- und Umweltschutz verhandeln, müssen sie stärker die Rolle von Konzernen, Superreichen und deren Investitionen in den Blick nehmen, fordert Oxfam. Dazu gehörten eine Vermögenssteuer für die reichsten Menschen und zusätzlich ein Aufschlag auf Vermögen, das in klimaschädliche Industrien investiert wurde, außerdem eine anspruchsvolle Übergewinnsteuer, vor allem für Konzerne aus dem fossilen Energiesektor. Unternehmen müssten ehrgeizige Aktionspläne zum Klimaschutz mit kurz- und mittelfristigen Zielen vorlegen, die mit den Zielen des Paris-Abkommens vereinbar sind, und bis 2050 Klimaneutralität erreichen. Sie müssten auch verpflichtet werden, Strategien zur Erfüllung ihrer Gemeinwohlpflichten vorzulegen. Ausschüttungen an Aktionäre sollten an Voraussetzungen gebunden und beim Überschuss eines Geschäftsjahres gedeckelt werden.
Benjamin Sommer
Weitere Informationen: www.oxfam.de