Aus DER RABE RALF Dezember 2022/Januar 2023, Seite 21
Die Anarchistin und Feministin Louise Michel war eine Pionierin der Tierbefreiung
Bis heute erregt sie die Gemüter: Einige sehen sie als bedeutendste Vorkämpferin für Frauenrechte, als selbstlose Anwältin der Armen und als konsequente Demokratin. Für andere war sie eine fanatische Radikale, die überall für Aufruhr sorgte und gelegentlich sogar zum Dynamit griff. Der Legende zufolge war sie die Erste, die der roten Fahne des Sozialismus die schwarze Fahne der Anarchie zur Seite stellte. Auch die indigenen Bewohner von Neukaledonien soll sie mit einer Fahne ausgestattet haben, als diese sich 1878 gegen die französische Kolonialmacht erhoben. Wer war die Frau, der Victor Hugo und Paul Verlaine Gedichte widmeten und nach der eine Pariser Metrostation, über 190 französische Schulen und ein Flüchtlingsrettungsschiff benannt wurden?
Im Schloss geboren
Louise Michel wird am 29. Mai 1830 im Schloss von Vroncourt, 400 Kilometer östlich von Paris entfernt, geboren. Sie ist das uneheliche Kind einer Magd und des Sohnes des Schlossherrn. Der leibliche Vater erkennt sie nicht an, doch dessen Eltern erziehen das aufgeweckte Kind in freiheitlichem Geist. Voltaire und Rousseau sind die Hausgötter.
1850 sterben ihre geliebten Großeltern und die junge Frau trägt fortan den Nachnahmen ihrer Mutter. Sie studiert im nahen Chaumont und wird Lehrerin. Zu dieser Zeit beginnt ihre Korrespondenz mit dem Nationaldichter Victor Hugo, der ihren eigenen poetischen Arbeiten mit Wohlwollen begegnet. Da sie sich weigert, einen Eid auf den Putschisten Napoleon III. zu leisten, darf sie nicht in den Staatsdienst treten. Sie gründet mehrere freie Schulen, lässt den Unterricht im Freien stattfinden und macht es sich zur Aufgabe, die Kinder möglichst oft mit der Natur in Berührung zu bringen. Für manche gilt sie deshalb als Begründerin der Naturpädagogik.
„Je grausamer ein Mensch gegen ein Tier ist, desto tiefer kriecht er vor der Macht, die über ihn selbst bestimmt“, notiert sie später in ihren Memoiren. An gleicher Stelle heißt es: „Als Grundlage meiner Revolte gegen die Starken diente mir, soweit ich mich erinnern kann, stets der Schrecken vor der Folter, die Tieren zugefügt wird. Mir ist oft vorgeworfen worden, dass ich mich mehr um Tiere als um Menschen kümmere: Warum vom Schicksal der Tiere bewegt werden, wenn die vernünftigen Wesen so unglücklich sind? Dabei gehört alles zusammen: vom Vogel, dessen Brut erdrückt wird, bis zu den vom Krieg dezimierten menschlichen Nestern. Das Tier verhungert in seinem Loch, der Mensch stirbt fernab seiner Heimat.“
Auf den Barrikaden
Wie viele Rebellen zieht es Michel nach Paris. Auch hier gründet sie eine Schule. Politisch findet sie bei der äußersten Linken eine Heimat und wird Anhängerin des Berufsrevolutionärs Auguste Blanqui. 1870 überschlagen sich die Ereignisse: Am 19. Juli erklärt Frankreich – wie von Bismarck gewollt – Preußen den Krieg. Nach der verlorenen Schlacht von Sedan in Nordfrankreich gerät Napoleon III. in Gefangenschaft. Auch die ihn ersetzende französische Regierung kapituliert kurz darauf. Nur Paris bleibt standhaft.
Michel greift selbst zur Waffe und kämpft an vorderster Front gegen die nun mit Preußen kollaborierende französische Zentralmacht. In der umzingelten Hauptstadt geschieht Erstaunliches: Das Volk ergreift die Macht und stellt fest, dass es seine Angelegenheiten ganz gut alleine regeln kann. Die Commune von Paris wird ausgerufen. Erstmalig bekommen Frauen ein Recht auf Arbeit und auf gleichen Lohn. Die sehr reale Utopie hält vom 18. März bis zum 28. Mai und geht in Blut unter.
Karl Marx feiert die Commune kurz darauf als die von ihm prophezeite „Regierung der Arbeiterklasse“ und „den Beginn der sozialen Revolution des 19. Jahrhunderts“. Im Laufe der Jahrzehnte sollten sich noch viele Kommunisten auf dieses Ereignis berufen. In Wirklichkeit waren aber die meisten Communarden Linkssozialisten oder Anhänger von Pierre-Joseph Proudhon, einem frühen Anarchisten und Erzfeind von Marx.
Die Commune am Ende der Welt
Louise Michel hat Glück im Unglück. Anders als viele Anhänger der Commune wird sie nicht sofort standrechtlich erschossen, sondern vor ein Kriegsgericht gestellt. Zu ihrer Verteidigung hat sie nur Folgendes zu sagen: „Ich will mich nicht verteidigen, und ich will nicht verteidigt werden. Ich übernehme die Verantwortung für alle meine Taten. Man wirft mir vor, Komplizin der Commune gewesen zu sein. Selbstverständlich war ich das, denn die Commune wollte vor allem die soziale Revolution, und die soziale Revolution ist, was ich mir am sehnlichsten wünsche.“ Sie geht sogar so weit, ihre eigene Erschießung zu fordern. Die Richter sind von ihrem Auftreten beeindruckt. Das Urteil lautet Verbannung.
Nach zwanzig Monaten Gefängnis wird sie mit anderen Communarden per Schiff nach Neukaledonien im Südpazifik gebracht. Ein von Frankreich denkbar weit entfernter Ort, an dem sich die Kolonialmacht ihrer untreuen Bürger entledigt. Während der Überfahrt wird Michel durch langes Nachdenken und Gespräche mit ihren Mitgefangenen zur Anarchistin. Auf den Inseln angekommen, erforscht sie die Flora und Fauna des Landes und tauscht sich mit der indigenen Bevölkerung aus. Die Menschen, die sich selbst als „Kanaken“ bezeichnen, nennen sie bald „Gouchenerée“, was so viel wie „schwesterliche Freundin“ heißt. Michel notiert und bearbeitet einige einheimische Mythen und publiziert sie später als Buch. Anders als die meisten ihrer Genossen, die sich nicht von ihren rassistischen Vorurteilen befreien konnten, verfolgt sie den großen Kanak-Aufstand von 1878 mit Sympathie. Leider scheitert auch diese revolutionäre Erhebung. Der Anführer Ataï wird, wie Michel beschreibt, von einem Verräter erschlagen. Sein abgetrennter Kopf landet in verschiedenen französischen Museen und wird erst 2014 zurück nach Neukaledonien gebracht.
Michel darf die Inselgruppe aufgrund einer Amnestie schon 1879 wieder verlassen. Bei der Ankunft im Hafen von Dieppe empfängt sie eine Menschenmenge: „Es lebe Louise Michel! Es lebe die Commune! Nieder mit den Mördern!“ Milde geworden ist sie nicht. Sie setzt sich weiter für ihre Ideale ein, bekämpft die Todesstrafe und fordert den Generalstreik. Immer wieder landet sie im Gefängnis und überlebt sogar ein Attentat. Am 9. Januar 1905 stirbt sie in Marseille. Zu ihrer Beerdigung sollen über 120.000 Menschen gekommen sein. Ein ihr gewidmetes Gedicht von Verlaine endet mit dem Vers: „Louise Michel est très bien.“
Michel lesen
In französischer Sprache sind die wichtigsten Werke von Michel auch kostenlos auf Wikisource zu finden. Eine gute Übersetzung ihres Berichts über die Pariser Commune hat der Mandelbaum-Verlag veröffentlicht (23 Euro). Der Unrast-Verlag bietet eine Übertragung ihrer Memoiren (16 Euro). Florence Hervé hat kürzlich einen Band mit Texten von und über Michel herausgegeben, der gut als Einstieg geeignet ist (Dietz, 12 Euro). Bei Bahoe Books kann der biografische Roman „Louise Michel. Die Anarchistin und die Menschenfresser“ von Eva Geber bestellt werden (24 Euro). Ebendort ist auch die Sammlung „Texte und Reden“ erschienen (siehe S. 23). Wer einen ganz anderen Zugang zu den Ereignissen in Paris um 1871 sucht, sei auf den Comic „Die Macht des Volkes“ von Jacques Tardi verwiesen. Leider sind einige Teile dieser Reihe bereits vergriffen.
Johann Thun