Aus DER RABE RALF Oktober/November 2021, Seite 1/4
Im September sind wieder zwei Radfahrer tödlich verunglückt. In diesem Jahr sind bisher neun Menschen beim Radfahren im Berliner Straßenverkehr gestorben, im Vorjahr waren es nach Recherchen des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) 19, nach Angaben der Polizei 17.
Die häufigste Unfallursache sind dabei rechtsabbiegende Lkw, für die kein Kollisionsvermeidungssystem vorgeschrieben ist, so dass die Fahrer die Radler oft nicht wahrnehmen. Ähnlich gefährlich sind Baustellen auf Radwegen, die zu sehr engen Wegen führen – häufig eine unhaltbare Situation für den Rad- und auch Fußverkehr.
Immer, wenn sich ein tödlicher Unfall ereignet hat, kommen ADFC-Aktive und stellen ein weiß gestrichenes „Geisterrad“ zum Gedenken auf. Der Rabe Ralf sprach mit Susanne Grittner, Landesvize des ADFC Berlin, über Geisterräder, Gefahrenquellen und darüber, was jeder einzelne tun kann, um die Straßen sicherer zu machen.
Der Rabe Ralf: Frau Grittner, wie sind Sie auf die Idee mit den „Geisterrädern“ gekommen?
Susanne Grittner: Die Idee stammt aus den USA. Dort wurden 2003 die ersten „Ghost Bikes“ aufgestellt, um an getötete Radfahrerinnen und Radfahrer zu erinnern – und auch, um alle zu mahnen, im Verkehr aufeinander Rücksicht zu nehmen.
In Berlin haben wir ungefähr ab 2005 darüber diskutiert und waren zuerst nicht sicher, ob das eine gute Idee ist, hier auch Geisterräder aufzustellen. Ein damals aktives Mitglied, Torsten Schmidt, hat uns überzeugt und wir haben Anfang 2009 erstmals für die im Jahr 2008 im Verkehr getöteten Radfahrerinnen und Radfahrer Geisterräder aufgestellt. Ähnliche Aktionen gab es aber auch schon in den 1990er-Jahren, als der ADFC im Berliner Zentrum Kreuze für im Verkehr getötete Kinder aufstellte. Das waren damals aber eher Einzelaktionen.
Seit einigen Jahren stellen wir die Geisterräder kurz nach dem Crash auf und lassen sie bis zum Totensonntag des Folgejahres am Unfallort stehen. Sie entwickeln sich teilweise zu einem wichtigen Gedenkort für Angehörige und Freunde.
Was kann ich als Einzelner tun, um die Straßen sicherer zu machen?
Jede und jeder sollte sich an die Regeln halten. Natürlich macht man auch mal einen Fehler, man sollte sich aber nicht vorsätzlich fehlerhaft verhalten. Gleichzeitig sollten alle aufeinander Rücksicht nehmen, um die Fehler der anderen auszugleichen, so dass niemand zu Schaden kommt. Nur so schaffen wir es gemeinsam, die Straßen sicherer zu machen.
Darüber hinaus muss die Verwaltung alles daran setzen, das gebaute Verkehrssystem sicherer zu gestalten. Dazu gehört neben der „Hardware“, der fest verbauten Infrastruktur, auch die Signalisierung der Ampeln – und in erster Linie eine andere Aufteilung der Flächen.
Dem Umweltverbund stehen zu wenig Flächen zur Verfügung. In der Innenstadt hat der Radverkehr so stark zugenommen, dass man an einigen Hauptverkehrsstraßen mit dem Rad mehrere Ampelphasen benötigt, um auf die andere Seite der Kreuzung zu kommen.
Der zunehmende Radverkehr führt auch zu einer größeren Geschwindigkeitsspreizung, so dass an Hauptverkehrsstraßen Radverkehrsanlagen ausreichend breit sein müssen, damit ein sicheres Überholen auch breiterer Lastenräder und unsicherer fahrender Kinder ermöglicht wird – wie es im Mobilitätsgesetz seit drei Jahren vorgesehen ist.
Wohin kann ich mich als Radfahrerin oder Fußgänger wenden, wenn ein unhaltbarer Zustand meinen täglichen Weg zur Gefahr macht?
Land und Bezirke betreiben verschiedene Meldeportale. Wir haben das auf adfc-berlin.de zusammengestellt unter „Aktiv werden bei Problemen“. Eine zentrale Adresse für ganz Berlin ist ordnungsamt.berlin.de. Wenn eine akute Gefahr besteht, kann man aber auch die 110 anrufen, damit die Gefahrenstelle beseitigt wird.
Haben Radfahrer bei Unfällen nicht auch manchmal Mitschuld?
Auch Radfahrerinnen und Radfahrer verhalten sich – zum Teil vorsätzlich – fehlerhaft im Verkehr. Sie schaden damit nicht nur dem eigenen Ruf, sondern auch dem Ruf aller anderen, die mit dem Rad unterwegs sind. Wir empfehlen allen dringend, sich an die bestehenden Regelungen zu halten. Nur so kann man im Schadensfall auch seine Ansprüche ohne große Abstriche durchsetzen.
Statistisch gesehen verursachen Radfahrende in Berlin weniger als 50 Prozent der Radunfälle. Zieht man die Eigen- und Alleinunfälle ab, haben in der Mehrzahl der Fälle die anderen Unfallbeteiligten – zu Fuß oder im Auto – den Crash verursacht.
Sollte man die Rechtsvorschriften im Verkehr reformieren?
Es gibt einige Rechtsvorschriften, die angepasst werden sollten. Immer wieder werden Radfahrende durch Kfz gefährdet, nicht nur im fließenden, auch im ruhenden Verkehr. Ein falsch geparkter Pkw kann die Sicht auf den Verkehr verdecken und damit indirekt einen Unfall verursachen. Der Nachweis, wer den Pkw geparkt hat, ist schwer zu führen. Und auch im fließenden Verkehr kann nicht immer zweifelsfrei festgestellt werden, wer einen Unfall verursacht hat. Eine Halterhaftung bei Kfz könnte hier Abhilfe schaffen.
Braucht es auch grundsätzliche Alternativen, zum Beispiel extra Wege für Lkws oder für Fahrräder?
Ein Großteil der innerstädtischen Wege wird beim Pendeln zurückgelegt. Wer Menschen, die pendeln, auf das Rad bringen will, muss ihnen eine Infrastruktur anbieten, mit der sie ihre Wege zügig, sicher und komfortabel zurücklegen können. Neben der objektiven Sicherheit spielt dabei auch die subjektive, empfundene Sicherheit eine große Rolle. Niemand fährt gern lange Strecken neben einer stark von Autos befahrenen Straße. Aber in der dicht bebauten Innenstadt muss es auch an den Hauptverkehrsstraßen ein Angebot zum sicheren Radfahren geben.
Schon jetzt gibt es Straßen, die für Lkw gesperrt sind. Denkbar wäre auch, die Zeiten zum Befahren bestimmter Straßen durch Lkw zu begrenzen, so dass gerade während der Pendelzeiten Konflikte vermieden werden.
Wichtig ist aber auch, dass die Radinfrastruktur freigehalten wird. Die Behörden müssen dies konsequent durchsetzen. Ein „Nur mal kurz“-Parken auf Radwegen, Schutz- und Radfahrstreifen darf ebenso wenig geduldet werden wie das Halten und Parken in zweiter Reihe.
Haben die Pop-up-Radwege etwas gebracht?
Ja! Sie haben ein zügiges Pendeln auf einigen Hauptverkehrsstraßen ermöglicht, haben weitere Menschen motiviert, mit dem Rad zu fahren. Besonders deutlich wurde das an Straßen, an denen es vorher gar keine Radverkehrsanlagen gab. Einige waren schon lange geplant und konnten nun schneller realisiert werden.
Fahrrad-Lieferdienste boomen und bald sollen auch mehr Lastenräder für Transporte eingesetzt werden. Wird es dann nicht noch enger und gefährlicher auf den Radwegen?
Das Mobilitätsgesetz schreibt schon seit drei Jahren vor, dass an allen Hauptverkehrsstraßen Radinfrastruktur geschaffen wird, die ausreichend breit zum sicheren Überholen ist. Natürlich geht das nicht von einem Tag auf den anderen, aber uns geht die Entwicklung noch nicht schnell genug.
Zunehmend gibt es Probleme, weil der Radverkehrsanteil schneller wächst als die Infrastruktur. An einigen Stellen kommt es zu Fahrrad-Staus, weil eine Ampelphase nicht ausreicht, damit alle über die Kreuzung kommen. An einigen Stellen gibt es Unfälle, weil Radverkehrsanlagen nicht breit genug zum sicheren Überholen sind: Da reichen die alten, ein oder 1,50 Meter breiten Radwege bei Weitem nicht aus – erst recht nicht, wenn breitere Fahrräder dazukommen.
Wie würden Sie sich eine Stadt mit dem idealen Verkehrssystem wünschen?
Ein städtisches Verkehrssystem sollte die verschiedensten Bedürfnisse berücksichtigen. Es sollte allen ermöglichen, sich sicher, zügig und komfortabel von A nach B zu bewegen, ohne Teile der Bevölkerung auszuschließen.
Wenn nur noch diejenigen mit dem privaten Pkw unterwegs sind, die darauf angewiesen sind, wird es für alle leichter und angenehmer, sich in der Stadt zu bewegen. Auch der Wirtschaftsverkehr kann davon profitieren, wenn sich weniger Menschen mit einem Gefährt von zehn Quadratmetern Grundfläche und einer Tonne Gewicht durch die Stadt bewegen – zusätzlich zur Entlastung für die Umwelt und das Klima.
Vielen Dank!
Interview: Richard Sauer
Weitere Informationen:
adfc-berlin.de/radverkehr/sicherheit