Ein gutes Leben für alle

Aus DER RABE RALF Oktober/November 2023, Seite 21

Pluriversum – hoffnungsvolle Stimmen aus aller Welt

Hat die Menschheit noch eine Chance?“, fragte ein Beitrag in der Februar-Ausgabe – und wies als mögliche positive Antwort auf ein Buch hin: „Pluriversum – Ein Lexikon des Guten Lebens für alle“. Nun erscheint es in deutscher Sprache und wird am 14. Oktober im Rahmen einer Multimedia-Veranstaltung der Grupo Sal in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin-Mitte vorgestellt.

Mit ihrem Buch möchten die fünf Herausgeber*innen Ashish Kothari (Pune), Ariel Salleh (Sydney), Arturo Escobar (North Carolina), Federico Demaria (Barcelona) und Alberto Acosta (Quito) die Leser*innen einladen, sich „auf einen tiefgreifenden Prozess der intellektuellen, emotionalen, ethischen und spirituellen Dekolonisierung einzulassen“. Der renommierte Nachhaltigkeitsforscher Wolfgang Sachs schreibt einleitend, nun sei „Überleben statt Fortschritt“ angesagt: „Nicht zuletzt die Überhitzung der Erde und der Verschleiß der biologischen Vielfalt haben dem Glauben, dass die entwickelten Nationen die Spitze der sozialen Evolution sind, den Boden entzogen.“ 

Alternativen zu „Fortschritt“ und „Entwicklung“ 

Dem herrschenden „Developmentalismus“ – dem ideologisch verbrämten Beharren auf „Entwicklung“ als technologie- und finanzgetriebenem Schneller-Höher-Weiter – möchten die Herausgeber*innen vielfältige Visionen und Praktiken eines Guten Lebens für alle entgegensetzen. Ihre marxistische Analyse ergänzen sie „durch Perspektiven wie Feminismus und Ökologie sowie durch Vorstellungen aus dem Globalen Süden, einschließlich der Ideale Gandhis“. Ein Pluriversum einer „Welt, in der viele Welten Platz haben“ – ganz im Sinne zapatistischer Weltsichten. Die Zapatistas sind indigene Aktivist*innen aus Chiapas im Süden von Mexiko, die seit den 1980er Jahren selbstorganisierte Gesellschaftsstrukturen aufbauen. Mit ihrem Motto „Fragend voran“ drücken sie ihre herrschaftskritische und feministische Haltung zur Welt aus. Im Sommer 2021 waren sie auf einer „Reise für das Leben“ in Europa, um weltweit Bewegungen „von links und unten“ zusammenzubringen (Rabe Ralf August 2021, S. 17). Mehrere Beiträge im Pluriversum-Buch beziehen sich auf sie.

„Es geht darum, uns zu vernetzen und unsere Kämpfe zu verbinden“, erklärten die Zapatistas in ihrem Mobilisierungsvideo zur Reise und betonten: „Wir werden nicht die Unterschiede suchen, sondern das, was uns verbindet.“ Im deutschsprachigen Raum ist es nicht leicht, die verschiedenen Kämpfe und Projekte für eine andere Welt so zusammenzubringen, dass wir mit vereinten Kräften dem schlechten Bestehenden etwas entgegensetzen könnten. Viel zu oft greifen Pseudo-Alternativen um sich, Greenwashing und Socialwashing sowie ökonomisch ignorante Diversity werden zu Bestandteilen profitabler Geschäftsmodelle. Diese setzen auf technische „Lösungen“, und auch gesellschaftlich scheint sich eine immer stärker wissenschafts- und technikorientierte, ja mitunter geradezu naturfeindliche Stimmung breitzumachen. Andere, alternative Ansätze werden an den Rand gedrängt oder sogar diffamiert. Mit Social-Business-Förderprogrammen wird eingehegt, was vielleicht einmal rebellisch begonnen hat.

Aber es gibt auch Hoffnung, beispielsweise unbeugsame Klimagerechtigkeits-Aktivist*innen, die von Zerstörung bedrohte Biotope besetzen, um sie zu schützen; Seenotrettungsprojekte, die das systematische Morden an den europäischen Außengrenzen anprangern und Menschen auf der Flucht solidarisch unterstützen; unterschiedlichste kollektive Wohn-, Arbeits- und Kulturprojekte, die schon heute versuchen, Keimformen des Zukünftigen zu gestalten. All dies ist vielfältig – pluriversal! –, nie perfekt, aber real, lokal handelnd und global vernetzt.

Das Pluriversum-Buch präsentiert über 100 starke Stimmen aus der ganzen Welt, die die Vielfalt feiern und sich gleichzeitig um verbindende Grundgedanken versammeln. Von wohlklingenden Scheinlösungen grenzen sie sich ab. Das Buch wurde von mehreren Engagierten aus der englischen Erstausgabe von 2019 übersetzt. 

Das Pluriversum in Berlin 

Für den 14. Oktober lädt die Evangelische Akademie zu Berlin zu einem Pluriversum-Multimediaprogramm der Grupo Sal ein: „Unter Pluriversum verstehen wir die Erkenntnis, die Anerkennung und die Verbreitung einer unerkannten bzw. unterdrückten Vielfalt von emanzipatorischen Perspektiven.“ Gemeinsam mit der Journalistin Sandra Weiss moderiert Alberto Acosta die Veranstaltung. Der frühere Energie- und Bergbauminister Ecuadors gehört zu den Initiator*innen des Volksentscheids gegen die weitere Abholzung des Yasuní-Nationalparks, der am 20. August 2023 mit 60 Prozent der abgegebenen Stimmen erfolgreich war. Über dieses historische Ereignis berichtete Acosta in der Taz vom 21. August im Gespräch mit Sandra Weiss. Bei der Veranstaltung in Berlin werden beide das Pluriversum-Buch vorstellen, gemeinsam mit der Autorin dieses Beitrags.

Per Videoschaltung wird der nigerianische Dichter und Umweltschützer Nnimmo Bassey anwesend sein. Der Träger des Alternativen Nobelpreises kämpfte gemeinsam mit Ken Saro-Wiwa, der nach einem Schauprozess 1995 hingerichtet wurde, gegen die Ölindustrie. Nnimmo Bassey saß selbst im Gefängnis und ist bis heute eine wichtige Stimme aus dem Globalen Süden. Im Pluriversum-Buch hat er den Artikel „Die Ketten der Entwicklung durchbrechen“ beigesteuert.

Umrahmt wird das Programm von lateinamerikanischer Musik des Grupo-Sal-Sextetts, dazu gibt es Videoprojektionen des Künstlers Johannes Keitel, mit denen die angesprochenen Themen visuell verdichtet werden.

Elisabeth Voß 

Ashish Kothari, Ariel Salleh, Arturo Escobar, Federico Demaria, Alberto Acosta (Hrsg.):
Pluriversum: Ein Lexikon des Guten Lebens für alle
AG SPAK Bücher, Neu-Ulm 2023
326 Seiten, 15 Euro
ISBN 978-3-945959-67-1

kostenlose Online-Fassung: www.agspak.de/pluriversum

Transparenzhinweis: Die Autorin hat die Übersetzung des Pluriversum-Buchs initiiert und selbst an der unentgeltlichen Übersetzung mitgewirkt. In diesem Beitrag hat sie Teile aus ihrem Nachwort zur deutschsprachigen Ausgabe übernommen, ohne dies gesondert zu kennzeichnen.

Zur Ausgaben-Übersicht

 


Copyright © 2009 - 2024 GRÜNE LIGA Berlin e.V. Landesverband Berlin - Netzwerk Ökologischer Bewegungen - Alle Rechte vorbehalten.