Die „Naturverbrauchsformel“

Aus DER RABE RALF Dezember 1997/Januar 1998

Auf der Grundlage des im letzten Teil erläuterten Verständnisses von Herrschaft läßt sich der Naturverbrauch mit einer Formel veranschaulichen. An ihr läßt sich sowohl der Unterschied von der amerikanistischen zur realsozialistischen und zur faschistischen Variante des Fordismus (siehe Teil 5/6, Sept./Okt. 97)* zeigen als auch die ökologische Ordnungsvorstellung der „nachhaltigen Entwicklung“ darstellen.

Für den Naturverbrauch einer Gesellschaft gilt zunächst:

C(onsumption) = S(ubsistenz)

+ R(eibungsverlust)

+ I(nvestition)

Im Unterschied zum deutschen Begriff „Konsum“ meint der englische Begriff C(onsumption) von vornherein den Gesamtverbrauch dessen, was aus der Natur entnommen oder an Belastungsmöglichkeiten (Müll, Verschmutzung) der Natur in Anspruch genommen wird. Dazu gehört nicht nur das, was wirklich konsumiert, sondern alles, was durch die Art des Produzierens etc. aufgewendet werden muß.

Der wirkliche Verbrauch für menschliche Bedürfnisse, die S(ubsistenz), wird ausdrücklich ohne wertende Komponente verwendet. Es geht also nicht nur um das absolut Lebensnotwendige, sondern auch um „Luxus“, um gemeinsame Bauten, Fahrzeuge etc. Es ist diejenige konsumierbare Natur, die wirklich bei der breiten Bevölkerung ankommt.

Die Art, wie dieser Konsum bewerkstelligt wird, erzeugt notwendigerweise bestimmte R(eibungsverluste). Eine Heizung verbraucht mehr Energie, als wirklich an Wärme in der Wohnung ankommt, was den Naturverbrauch über den Konsum hinaus erhöht. Auch Reparatur und Instandhaltung der Werkzeuge und Strukturen gehören zu den Reibungsverlusten; alles, was über den Konsum hinaus aufgewendet werden muß, damit das aktuelle Niveau gehalten werden kann. Die Befriedigung der Bedürfnisse kann also ökologisch verlustreicher oder effektiver sein; je nachdem wird R größer oder kleiner.

Schließlich werden in jeder Gesellschaft nicht nur Güter verbraucht, sondern auch I(nvestitionen) getätigt: nach Befriedigung der gängigen Bedürfnisse bleibt (wenn es gut läuft) etwas übrig, was für zukunftsorientierte Unternehmungen der Gemeinschaft aufgewendet werden kann – den Bau einer Brücke, die Erzeugung von Waffen, die Errichtung einer Radiostation oder was immer. Die Investition meint also das wirklich Neue, was eine Gesellschaft sich leistet oder womit sie sich stofflich verändert.

In einer herrschaftsarmen Gesellschaft wird der größte Teil des Naturverbrauchs tatsächlich direkt konsumiert. Da eine freie Gesellschaft kaum Großprojekte kennt, hat sie relativ wenig Reibungsverluste. Sie entwickelt keine Heizungen mit optimalem Wirkungsgrad – dazu ist eine freie Gesellschaft buchstäblich zu faul -, aber sie wirft auch nicht mit naturfressenden Apparaten um sich und hält sich großenteils an lokale Stoffströme und Kreisläufe. Die Investitionen halten sich in engen Grenzen, weil die Individuen im Zweifelsfall lieber in sich selbst investieren und nur nach genauer Prüfung in Gemeinschaftsprojekte. Die Struktur des Naturverbrauchs einer herrschaftsarmen Gesellschaft sieht also so aus (große und kleine Buchstaben geben das relative Gewicht der einzelnen Posten an):

C = S + r + i

Herrschaft fügt der ökologischen Bilanz einer Gesellschaft einen gewichtigen Posten hinzu. Herrschaft kostet. In einer herrschaftsförmigen Gesellschaft müssen die Individuen nicht nur das schaffen, was sie selbst verbrauchen, sondern zusätzlich die herrschende Gruppe durchfüttern und dazu noch all das produzieren, was zur Aufrechterhaltung der Herrschaft notwendig ist. Dieser zusätzliche Posten wird im folgenden als H(errschaftskonsum) bezeichnet: das, was die Herrschaftsverhältnisse verbrauchen, nur um Herrschaftsverhältnisse zu bleiben. Es ist der Posten, der in den gängigen Nachhaltigkeitsstudien einfach  unterschlagen wird.

C = S + H + R + I

Zum Herrschaftskonsum gehören fünf Dinge. Erstens die P(rivilegien), die sich die herrschende Gruppe gönnt: die Natur, die die eigentliche Herrschaftselite für ihre privaten Bedürfnisse verpulvert. Zweitens die M(achtmittel), mit denen sie ihre Herrschaft verteidigt, die Waffen und Kontrollgeräte. Drittens kann eine Gesellschaft auch einen erheblichen Teil ihrer Exportproduktion als reine Machtmittel einsetzen, um die Kontrolle über andere Gebiete zu erlangen; dies ist dann der Fall, wenn die exportierten Produkte dort nicht zur verbesserten Befriedigung der Bedürfnisse führen, sondern nur zur Abhängigkeit vom Exportland. Weizen als Waffe wurde bereits erwähnt (Teil 6); Rüstungsexporte und der ganze Kram für die Chemisierung der Landwirtschaft fallen genauso darunter. Zur Unterscheidung von den direkten Machtmitteln werden diese indirekten Machtmittel hier als A(bhängigkeitsmittel) bezeichnet.

Viertens die B(eute). Eine komplexe Herrschaft muß etwas zu verteilen haben an ihre Funktionsträger, an die kleinen, mittleren und ganz kleinen Herrschenden und Halb-Herrschenden, die sie zur Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft braucht. Sie muß den Jungs im Golfkrieg, die ihr das Öl beschaffen, nicht nur das Essen, die Waffen und die Nachtsichtgeräte liefern (das fällt alles unter die Machtmittel), sondern auch die Cola, die Heftchen und die Porno-Videos, mit denen sie bei Laune bleiben. Sie muß ihren Funktionseliten zu Hause und in den beherrschten Ländern einen angemessenen Lebensstil bieten, damit sie bei der Stange bleiben. Fünftens schließlich erzeugt auch die Herrschaftsform der Gesellschaft zusätzliche Reibungsverluste bei der Befriedigung der allgemeinen Bedürfnisse. Daß die kapitalistische Gesellschaft etwa die Gesamtheit der Nahrungsmittel und der Energieversorgung über zentrale Märkte führt, lokale Selbstversorgung weitgehend verhindert und dafür massive ökologische Verluste kassiert, ist allein dem Umstand geschuldet, daß dieses Verfahren herrschaftstechnisch dienlicher ist.

Es kommt also hinzu:

H(errschaftskonsum) = P(rivilegien)

+ M(achtmittel)

+ A(bhängigkeitsmittel)

+ B(eute)

+ R(eibungsverlust)

Die komplette Formel für den Naturverbrauch einer herrschaftsförmigen Gesellschaft lautet damit:

C = S + (P + M + A + B + R2) + R1 + I

An dieser Formel lassen sich die unterschiedlichen ökologischen Strategien der verschiedenen Varianten der Industriegesellschaft darstellen. Die Ökologie des Faschismus (siehe Teil 5) war dadurch gekennzeichnet, daß sie vor allem auf den Ausbau der direkten Machtmittel setzte, die Mittel der ökonomisch-ökologischen Abhängigkeit dagegen sparsamer einsetzte und überhaupt bestrebt war, durch effiziente, gewaltförmige Planung die Reibungsverluste niedrig zu halten. Zur Brutalität des Faschismus gehört außer der Expansion der Machtmittel aber auch, daß er die konsumptiven Bedürfnisse der Menschen so weit heruntersparte, wie es nur ging – nicht bei den integrierten Volksgenossen, aber bei allen anderen, bis hin zur Vernichtung durch Arbeit, durch Unterkonsum oder durch Tötung. Der Naturverbrauch der faschistischen Ökologie sieht also so aus:

C = s + (P + M + a + b + r2) + r1 + i

Die Ökologie des Amerikanismus und des Realsozialismus, der beiden industriellen Varianten, die die Nachkriegszeit bestimmten, setzt die Akzente anders. Die Grenze, die der antifaschistische Widerstand der kapitalistischen Vernichtung von Leben zieht, hebt zumindest tendenziell der Unterkonsum bei den direkten Bedürfnissen auf. Ebenfalls schießen die Beutezahlungen ins Kraut, die die direkte Kolonisierung und Besatzung ersetzen; privilegierte Industriearbeiter und Angestellte stehen Schlange beim Beuteholen. Relativ gesehen, operieren Amerikanismus und Realsozialismus weniger mit direkten Machtmitteln und mehr mit Abhängigkeitsmitteln, die außerordentlich expandieren. Die Reibungsverluste schießen hoch, sowohl die herrschaftsbedingten als auch die nur durch technische Ineffizienz verursachten. Verschwendung von Energie und Material scheint auf dem voll erschlossenen Weltmarkt keine Rolle zu spielen. Was man von der Rüstungsproduktion dieser Zeit halten soll, ist nicht ganz klar. Zumindest der Löwenanteil der atomaren Aufrüstung und der Weltraumrüstung spielt nie eine Rolle als direktes Machtmittel, sondern eher als verschwenderische Form der Technologieentwicklung, der Ausrichtung der Produktionsprozesse und der Entwicklung technologischer Abhängigkeitsmittel. Also:

C = S + (P + m + A + B + R2) + R1 + I

Die ökologische Krise der Industriegesellschaft, die ab den späten sechziger Jahren offenbar ist, liegt an der Expansion sämtlicher Bestandteile dieser Rechnung. Die Erschütterung und Infragestellung der Herrschaftsverhältnisse tendiert dazu, den Subsistenz-Posten zu erhöhen: die berühmte „Anspruchsrevolution“ in der Dritten Welt und in den Industrieländern selbst. Sie macht gleichzeitig verstärkte Anstrengungen notwendig, die Kontrolle aufrechtzuerhalten: mehr direkte Machtmittel (hierunter gehören die neuen „weichen“ sozialen Kontrollstrategien, die eine Menge Wissenschaft und Personal binden), mehr Abhängigkeitsmittel, noch mehr Beute, noch mehr Reibungsverluste. Zwar gibt es erste Bestrebungen, die technische Effizienz des Ressourcenvebrauchs zu verbessern, außer beim Öl sind diese Bestrebungen jedoch relativ schwach und ergebnislos. Bei gleichbleibendem Gesamtverbrauch müßten entweder die Privilegien schmaler werden, was im Verhältnis jedoch wenig bringt, oder die Investitionen schwinden, was keine gute Perspektive für eine Herrschaftsordnung ist. Bisher funktioniert das Ganze noch dadurch, daß der Gesamtverbrauch von Natur (C) kontinuierlich gesteigert wird, und zwar immer schneller.

Die heutige ökologische Krise hat darin ihren Ursprung. Sie ist eine Krise des Herrschaftssystems.

Hier setzt die nachhaltige Entwicklung an. Sie strebt folgende Struktur des gesellschaftlichen Naturverbrauchs an:

C = s + (P + M + A + b + r2) + r1 + I

Die Anspruchsrevolution (bei S) wird zurückgedrängt. Es geht um einen Wertewandel („Suffizienzrevolution“), um ein Sparen bei den Bedürfnissen der breiten Bevölkerung, und zwar weltweit. Die Beute wird gekürzt: die gutbezahlten Lebensarbeitsplätze in den Industrieländern gekündigt, die nationalen Eliten der Dritten Welt ebenso. Die Machtmittel müssen deshalb steigen. Direkte Intervention wird öfter notwendig, wenn die Konflikte durch niedrigeren Gesamtverbrauch härter werden und die Fügsamkeit von Funktionsträgern nicht durch immer mehr Beute erkauft werden kann. Der Präzedenzfall für die neue Normalität von Militärinterventionen war der Golfkrieg; der Umbau zu schnellen Eingreiftruppen, die weltweit operieren können, und das Nachdenken über „ökologische Sicherheit“ als Einsatzgrund zeigen in die gleiche Richtung.

Die technische Effizienzrevolution senkt (immer relativ gesehen) den Naturverbrauch durch Reibungsverluste (R1). Es wird auch strukturelle Effizienzverbesserungen geben.

Unklar ist noch, wie sich das Verhältnis von A und R2 gestalten wird. Es ist auf Dauer keineswegs sicher, daß das System der totalen Weltmarktliberalisierung erhalten bleiben wird, wegen seiner enormen ökologischen Reibungsverluste (R2). Wahrscheinlicher ist, daß Teile der weltweiten Stoff- und Energieströme stärker kontrolliert und direkt gelenkt werden, weil ein totaler Freihandel ökologisch zu verschwenderisch ist. Es ist gut möglich, daß die Kritik der NGOs an GATT und WTO irgendwann offene Türen bei den Regierungen einrennt.

Auf der Weltmarktkonkurrenz beruht aber zum Teil die Kraft der Abhängigkeitsmittel. Deshalb gibt es zwei Tendenzen. Die eine ist die ökologische Effizienzrevolution bei den Abhängigkeitsmitteln, die sich insbesondere mit den sogenannten Zukunftstechnologien verbindet, vor allem der Biotechnologie. Die Mittel, mit denen abhängig gemacht wird, werden leicht und klein. Nicht mehr tonnenschwere Industrieanlagen und Maschinen, sondern die Versorgung mit High-Tech-Saatgut, chemischen und gentechnischen Präparaten und mit Informationen werden die Mittel sein, ohne die die Landwirtschaft im Süden nicht mehr funktionieren wird. Letztlich bedeutet das, daß bestimmte multinationale Konzerne als technologische Treuhänder für ganze Länder der Dritten Welt eingesetzt werden und deren Entscheidungen immer direkter bestimmen. Die zweite Tendenz ist, daß bei sinkender Bindekraft des Weltmarkts die direkte Intervention zunimmt: eine Verschiebung von den Abhängigkeitsmitteln zu direkten Gewaltmitteln. Dies führt zu militärischen Nord-Süd-Konfrontationen, aber auch zu einer Militarisierung der Herrschaftsverhältnisse im Süden selbst, möglicherweise auch in Teilen des Nordens.

Beide Tendenzen bestehen nebeneinander. Zur Zeit scheint Asien stärker zum Objekt der „effektivierten Abhängigkeit“ zu werden (Hoechst, Cargill usw. schicken sich an, die Agrarproduktion in Indien, als Fernziel auch in China, mehr und mehr technologisch zu kontrollieren). Afrika dagegen wird zum Objekt der Militarisierung, wo keine komplizierte Abhängigkeitsstruktur aufgebaut wird, sondern totalitäre Rohstoffregimes von den internationalen Konzernen gestützt werden, ganze Staaten also nach dem Bild einer diktatorisch geführten Bergbaumine organisiert werden. Man könnte dazu übergehen, die Staaten nach dem Inhalt ihrer Mine zu benennen: Nigeria wäre dann „Shell-Oil“, der Niger „Urania“. Entsprechend massiv ist ja der Verlust an Ansehen, den diese Staaten bei ihrer Bevölkerung erleiden. Weil keine Entwicklung mehr stattfindet wie in der amerikanistischen Ära, haben Staat und Gesellschaft immer weniger miteinander zu tun: die Gesellschaft ist der Hund, der vom Staat mit Steinwürfen vertrieben wird, wenn er ihm in die Quere kommt.

Ein Vergleich zeigt, daß die Formel eines nachhaltigen Naturverbrauchs zunächst einmal rein formal zwischen der amerikanistisch/realsozialistischen Formel und der Formel der faschistischen Ökologie steht. Diese Verschiebung der Prioritäten ist allerdings durchaus auch politisch spürbar. Sie zeigt sich im zunehmenden Interesse an Bevölkerungspolitik als Weg zur Reduzierung des Subsistenz-Postens, im Ende der Menschenrechtsagitation der Ersten Welt und im offen proklamierten Ende von Entwicklung. Entwicklung war die Kombination aus steigendem Lebensstandard (S) und reichlich verteilter Beute (B) als Mittel der Weltmarktintegration und kapitalistischen Durchdringung. Sie zeigt sich in der Renaissance der „Eingeborenenwirtschaft“ als Mittel der angepaßten Wertschöpfung mit geringem Investitionsbedarf – nicht umsonst gibt es in Lateinamerika bereits den ironischen Begriff von miseria sostenibile, dem selbsttragenden Elend. Sie zeigt sich in der sozialen Kälte in der Ersten Welt, deren Entwicklungsweg immer größere Gruppen von überflüssigen Essern im eigenen Land schafft, die zunehmend als eine zu verwaltende Last empfunden werden. Sie zeigt sich in den „Freien Produktionszonen“, wo multinationale Konzerne eine Produktion ohne staatliche Kontrolle und Abgabenpflicht entfalten.

Natürlich sind die Erfahrungen der Menschen, die Emanzipationsprozesse und Anspruchsrevolutionen, die Lernprozesse und Widerstandserfahrungen der letzten fünfzig Jahre nicht beliebig rückholbar. Er gibt kein Zurück zu Methoden und Ideologien der dreißiger und vierziger Jahre. Die zukünftige nachhaltige Weltordnung kommt nicht darum herum, sich multikultureller und zivilgesellschaftlicher Formen zu bedienen. Man darf die Ähnlichkeiten aber auch nicht unterschätzen. Die Formel steht, und es wird nicht an Versuchen fehlen, sie durchzusetzen.

So steht es natürlich in keiner Studie. So wird es auch nicht gesagt. Aber es ist der reale Prozeß. Wenn man das zusammenrechnet, was vorliegt: den Grundansatz der herrschenden Nachhaltigkeitsdebatte, ihre nicht zufälligen blinden Flecken und das, was an tatsächlichen Verschiebungen in der Realität zu beobachten ist, dann ergibt sich dieses Bild des derzeitigen Übergangs in der Struktur des Naturverbrauchs. Ob sie es wollen oder nicht: die Mainstream-Beiträge zur Nachhaltigkeit sind Teil des Versuchs, die kapitalistische Form der Naturnutzung wieder flott und zukunftsfähig zu machen. Es sind Beiträge zur Lösung der Krise des Herrschaftssystems.

Die Pyramide der herrschaftsförmigen Naturnutzung (siehe Teil 7) soll ihre Form verändern. Die Pyramide des Amerikanismus und des Realsozialismus konnte ihre Basis verbreitern, sich immer mehr Gebiete und Menschen einverleiben und dadurch enorm an Höhe gewinnen. Sie litt allerdings an einer zunehmenden Herzverfettung: während die Basis nur noch langsam breiter wurde, schwoll die Pyramide vor allem in der Mitte an, wo immer mehr kleine und mittlere Funktionsträger konsumierten und Beute für sich behielten. Die Pyramide der Industriegesellschaft bekam einen starken Bauchansatz (wie das für ihre Nutznießer selbst ja auch typisch ist). Das Hauptproblem für die Spitze der Pyramide, die internationalen Herrschaftseliten, waren und sind weniger die ökologisch katastrophalen Folgen des steigenden Naturverbrauchs als vielmehr die Tatsache, daß immer mehr Naturverbrauch zu immer weniger realem Wachstum der Pyramide führte.

Die Pyramide der Nachhaltigkeit soll schlank sein. Die Basis soll noch breiter werden, der Bauch verschwinden und die Höhe schneller zunehmen. Mit vielen kleinen, lokalen Projekten in der Dritten Welt und mit den neuen, detaillierteren Zugriffsmöglichkeiten der neuen Technologien wird das Einzugsgebiet der Basis ausgedehnt und zugleich der Bauch einer Diät unterworfen. Der wissenschaftlich-technokratische Charakter des Naturzugriffs trägt dazu bei, daß die Abhängigkeiten immer totaler werden, die Spitze der Herrschaft also immer höher ragt.

Einige Konsequenzen aus der Naturverbrauchsformel der nachhaltigen Entwicklung lassen sich leicht erkennen. Erstens: Der herrschende Nachhaltigkeitskurs hat nichts mit Emanzipation zu tun. Er ist Teil einer verbesserten und erweiterten Machtpolitik, weil er den Herrschaftskonsum von der Last der Subsistenz, der Beute und allzuhohen Reibungsverlusten befreit. Es handelt sich um eine Art ökologische Kriegswirtschaft, und das Umweltsparen im Kleinen soll Spielräume für die strategisch wichtigen Investitionen schaffen, für die technologische, ökonomische und militärische Aufrüstung.

Zweitens: Die Teilnahme an dieser Form des Öko-Sparens, ob mit lokaler Politikberatung oder persönlicher Kasteiung (ecological correctness), ist kein Beitrag zur Lösung der ökologischen Weltprobleme. Wenn wir unseren Müll trennen, unsere Joghurtdeckel sammeln, über die lokale Umsetzung der Agenda 21 nachdenken, zu Experten der Umwelttechnologie werden oder die „50Beispiele für den Faktor 4“ umsetzen, entscheidet das nicht über die ökologische Zukunft. Die Gesamtheit des Naturverbrauchs (C) steigt weiter. Die Einsparungen auf der einen Seite werden von der anderen Seite aufgezehrt, wenn es keine Mittel gibt, diese Verschiebung zu verhindern. Die können aber nur in Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Herrschaftsformen gefunden werden.

Drittens: Die Unterstützung des Übergangs zur herrschenden Nachhaltigkeit ist nicht nur sozial, sondern auch ökologisch schädlich und unverantwortlich. Wie in Teil 7 herausgearbeitet, sorgt die soziale Kohärenz der kapitalistischen Herrschaft dafür, daß Naturzerstörung prinzipiell immer weiter vorangetrieben wird. Indem der herrschende Nachhaltigkeitskurs aber dahin führt, daß das Verhältnis zwischen der Subsistenz und dem Herrschaftskonsum immer ungünstiger wird, verschärft sich der Druck auf den Einzelnen und erweitern sich die Zugriffsmöglichkeiten des Herrschaftssystems auf die Natur. Genau das geschieht ja auch. Indem wir den staatlich vermittelten Konsum in ökologisch sensiblen Gebieten senken, zwingen wir die Menschen dort dazu, umso rabiater und skrupelloser die Natur zu verbrauchen oder zu verkaufen, um ihr Überleben zu sichern: wir fördern die wilde Abholzung des Regenwalds, die Zunahme von Wüstenbildung durch Überweidung usw. Wenn wir lokale Nachhaltigkeitsprojekte in der Dritten Welt fördern, die trotzdem die internationale Marktanbindung und den Devisengewinn aus Exportprodukten zum Ziel haben, wird die kapitalistische Inwertsetzung und der Ausverkauf der Natur weiter vorangetrieben. Indem wir den Herrschaftskonsum von Rohstoffengpässen entlasten und seiner wissenschaftlich-technokratischen Durchdringung der Naturbeziehungen noch Vorschub leisten, fördern wir ein totalitäres Naturmanagement, das immer höhere Risiken enthält.

Die Geißelung und Selbstgeißelung, die inzwischen zur ökologischen Mode geworden ist, ist die Schmiere, mit der die ökologische Umverteilung und die Senkung der Ansprüche glatter über die Bühne gehen soll. Vor 25 Jahren hatte der Hinweis darauf, daß wir über unsere ökologischen Verhältnisse leben, noch einen kritischen Inhalt, und der Versuch, bewußt ganz anders zu leben, vielleicht gar kulturrevolutionären Gehalt. Heute ist mehr oder weniger jedem klar, daß der Lebensstil, der in letzten fünfzig Jahren im Norden zur Gewohnheit geworden ist, so nicht wird bleiben können; und das ist auch gut so. Das ganze Pathos der ökologischen Sparsamkeit bei den Ansprüchen und bei den Reibungsverlusten, Suffizienz- und Effizienzrevolution also, ist nur ein Trick, um vom Dröhnen der kapitalistischen Naturverbrauchsmaschine abzulenken.

Indem wir immer ökologischer werden, unseren Alltag immer umständlicher und lustfeindlicher gestalten, sind wir außerdem gut beschäftigt und fallen als politische Störkraft kaum noch ins Gewicht. Jedenfalls ist es kaum vorstellbar, daß eine Truppe von ökologischen Oberlehrern und miesmuscheligen Verzichtskünstlern zu einer Bewegung wird, die das herrschende Projekt der ökologischen Modernisierung, nachhaltigen Umverteilung und wissenschaftlich vertieften Naturzerstörung ernsthaft gefährden kann. Die Frage, „ob wir es wirklich ernst meinen damit, daß wir so nicht mehr leben wollen“ (Helke Sander), beantwortet sich nicht damit, daß wir mit dem Fahrrad fahren.

Christoph Spehr

Literatur:

Veronika Bennholdt-Thomsen: Zivilisation, moderner Staat und Gewalt. Kritik an Norbert Elias‘ Zivilisationstheorie, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 13, Köln 1985.

Frank Herbert: Die Ordensburg des Wüstenplaneten, 11. Auflage, München 1994.

Catharine MacKinnon: Feminismus, Marxismus, Methode und der Staat: Ein Theorieprogramm, in: Elisabeth List, Herlinde Studer (Hrsg.): Feminismus und Kritik, Frankfurt/Main 1989.

Helke Sander: Über die Beziehungen zwischen Liebesverhältnissen und Mittelstreckenraketen, in: Courage 4/1980.

Ernst Ulrich von Weizsäcker, Amory B. Lovins, L. Hunter Lovins: Faktor Vier. Doppelter Wohlstand – halbierter Naturverbrauch, München 1995.


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