”Der Weg der Frauen” – Die Subsistenztheorie

Schließt die Orientierung auf das Lebensnotwendige ein “Leben in Fülle” aus?

Aus DER RABE RALF September 1998

Diese Probleme hat die Subsistenztheorie nicht. Sie entstand ebenfalls Mitte der 70er Jahre: in Deutschland mit den Forschungen von Maria Mies, Veronika Bennholdt-Thomsen und Claudia von Werlhof, die damals an der Universität Bielefeld arbeiteten, und gleichzeitig in verschiedenen Dritte-Welt-Ländern, etwa mit den Arbeiten von Vandana Shiva in Indien.

Auch die „Bielefelderinnen“ beschäftigten sich mit Entwicklungsprozessen in der Dritten Welt. Dabei legten sie das Hauptgewicht auf die Bedeutung der Arbeit von Frauen, die den industriell-kapitalistischen Entwicklungsweg ermöglicht, aber als unbezahlte oder geringfügig bezahlte Arbeit „gratis“ geleistet wird. Dies ist nicht nur Reproduktionsarbeit, wie Hausarbeit und Kinderaufziehen, sondern ebenso kleinbäuerliche Produktion, Handel auf lokalen Märkten, Austausch und Erwerb von „Überlebenswissen“, Aufrechterhaltung sozialer Bindungen und Netze; und schließlich die schlechtbezahlte Arbeit in der Fabrikproduktion selbst. Es ist die Arbeit, die das Überleben ermöglicht. Die Bielefelderinnen nennen sie Subsistenzproduktion (Subsistenz: Eigenversorgung, Selbstunterhalt). Diese Arbeit ist flexibel und verantwortlich dafür, ihre Probleme selbst zu lösen; sie kennt keinen Achtstundentag, keinen Tariflohn, keinen Urlaub und kein Krankengeld; sie entspringt den sozialen Strukturen und ist in sie eingebettet. Wirtschaftlicher Aufschwung baut darauf auf, daß diese Arbeit selbstverständlich und ohne große Kosten zur Verfügung steht; ebenso ist die besserbezahlte Vermarktung männlicher Arbeitskraft unsichtbar davon getragen, daß sie auf diese selbstverständliche Frauenarbeit bauen kann. In Krisenzeiten zerfällt der kapitalistische Arbeitsmarkt, und Familien und dörfliche Gemeinden überleben auch dann nur dadurch, daß sie sich auf die unmittelbare kleinbäuerliche Produktion und auf Erfahrungen und Kenntnisse der Frauenarbeit zurückziehen können.

Diese Betrachtungsweise führte die Bielefelderinnen und Theoretikerinnen der Dritten Welt zu einer Auffassung der historisch-materialistischen Theorie, die im krassen Gegensatz zur marxistischen Auffassung stand: Nicht die Lohnarbeit und nicht die industrielle Produktion sind die Basis des Kapitalismus und überhaupt der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern die konkrete „Überlebensarbeit“, die zum ganz überwiegenden Teil von Frauen geleistet wird. Alles hängt von ihr ab. Sie ist keineswegs „primitiv“, sondern hochentwickelt und leistet wie selbstverständlich Dinge, die als tariflich bezahlte Lohnarbeit sehr teuer wären. Sie verschwindet auch in der industriell-kapitalistischen Produktion keineswegs, sondern bleibt die Basis des Überlebens wie auch der Produktion. Die traditionelle Verachtung der Linken für kleinbäuerliche Subsistenzproduktion und Hausarbeit ist ebenso Ausdruck von Blindheit und Arroganz wie die Vorstellung, in hochindustrialisierten Ländern wäre der überwiegende Teil der Reproduktionsarbeit vergesellschaftet und alle Beziehungen liefen marktwirtschaftlich ab.

Subsistenzarbeit: Das Wesentliche, das unsichtbar bleibt

Bezahlt wird für diese Arbeit wenig oder gar nichts. Das ist die Basis für das Patriarchat (männlich dominierte Gesellschaft) wie auch für den Kapitalismus (ökonomisch dominierte Gesellschaft), seine grundlegende Ausbeutungsbeziehung und sein entscheidender sozialer Widerspruch. In der kapitalistisch-industriellen Entwicklung zeigt sich die Allianz von Patriarchat und Kapital. Das Problem ist weniger die geschlechtliche Arbeitsteilung, die auch in vorindustriellen Gesellschaften existiert, sondern die gewaltsame Unterordnung der Arbeiten, die von Frauen getan werden; der Raub der Ergebnisse dieser Arbeit; der Gewaltprozeß, in dem Frauen zum Eigentum von Männern gemacht werden und ihre Kontrolle über die Subsistenzmittel gebrochen wird. Die neuzeitliche Modernisierung ist eine Geschichte der Gewalt weißer Männer gegenüber Frauen, Kolonien und der Natur. Der moderne „Emanzipationsprozeß“ besteht in der gewaltsamen Verfügung dieser Männer über Frauen, Kolonien und Natur und der scheinbaren Unabhängigkeit von ihnen. Frauen machen weiterhin die Subsistenzarbeit, aber sie kontrollieren sie nicht mehr, sie verfügen nicht mehr über ihre Ergebnisse. Die Subsistenzarbeit wird unsichtbar gemacht, während sie weiterhin stattfindet. Dieser historische Gewaltprozeß ermöglicht erst die Kapitalakkumulation und reproduziert das Gewaltverhältnis von Männern über Frauen. Die Idee, alle Menschen könnten sich befreien, indem sie sich von der Natur und der Subsistenzarbeit „emanzipieren“, ist eine Illusion: diese Art von Befreiung und Wohlstand ist immer nur für einige auf Kosten der anderen möglich.

Wirtschaften mit sozialer Verantwortung

Von einer heutigen ökologischen Krise zu sprechen, ist nach der Subsistenztheorie nur mäßig sinnvoll: Ausbeutung der Natur und Vernichtung von Leben gehören schon immer zur Geschichte patriarchal-kapitalistischer Modernisierung. Kapitalistisches Wachstum und patriarchale Entwicklung sind Vorhaben, die zwangsläufig zur Naturzerstörung führen. Der Ausweg liegt demnach in ihrer Überwindung und im Übergang zur Subsistenzwirtschaft. Subsistenzwirtschaft wird dabei definiert als eine moral economy, eine ”Verantwortungsökonomie”, die auf gemeinschaftlichem Besitz und einer sozialen Existenzgarantie beruht. Sie ist auf die Region bezogen, räumt der landwirtschaftlichen Produktion einen führenden Stellung ein, unterhält keine Export-Import-Beziehungen von größerem Umfang. Sie stellt die Kontrolle von Frauen über die Subsistenzmittel her, sorgt durch Entzug der Machtmittel für eine „Entmilitarisierung der Männer“, und akzeptiert die natürlichen Begrenzungen der Produktion und des Lebens.

Als Handlungsperspektive fordert die Subsistenztheorie zum unmittelbaren Aufbau subsistenz-orientierter Arbeits- und Lebensprojekte auf. Der Übergang zu einem subsistenten Leben sei für alle jederzeit möglich und notwendig – in gemeinschaftlichen Projekten, die „heute sofort anfangen, anders zu wirtschaften“. Die Subsistenztheorie kann dabei darauf hinweisen, daß der Industriekapitalismus tatsächlich immer mehr Menschen und Regionen „ausspuckt“, die gar keine andere Wahl haben, als nach eigenständigen, subsistenzorientierten Überlebensweisen zu suchen. Als Übergangsmöglichkeit wird auf jeden Fall eine Strategie der „Konsumbefreiung“ vertreten: sich unabhängiger zu machen vom Konsumismus, dadurch direkt Einfluß auf das zu nehmen, was produziert wird, und durch Umorientierung des eigenen Konsums zu einer ”Austrocknung” der Standort- und Wachstumslogik beizutragen. Beispiele dafür sind die subsistenzorientierten Bauernbewegungen in Indien und Bangladesh, insbesondere die Niembaum-Kampagne; die Seikatsu-Clubs japanischer Frauen, die alle nicht-regionalen Nahrungsmittel boykottieren (s. Rabe Ralf Febr. 97, S. 21/24); ökologisch wirtschaftende Landkommunen sowie die SSK in Köln, ein Selbsthilfeprojekt, das städtischen Müll kompostiert.

Zwischen allen Stühlen ist noch viel Platz

Die Subsistenztheorie ist nicht einfach eine ökonomische Theorie oder ein ökologisches Rettungsmanöver. Sie ist ein kulturrevolutionäres Programm. Die Fixierung auf Geld, Macht, Karriere, Teilhabe an der ”Beute” wird mit Recht dafür verantwortlich gemacht, daß Reformalternativen scheitern und sogar zur Stabilisierung der überkommenen Verhältnisse beitragen. Erst die Abwendung von dieser Fixierung ermöglicht Lösungen der Befreiung. Das beinhaltet, Bedürfnisbefriedigung und Freiräume nicht von Appellen an den Staat zu erwarten, sondern durch Selbstorganisation direkt in die Hand zu nehmen – sei es durch Landbesetzung, sei es durch gemeinsame Organisation. Das geht bis zu der Sichtweise, Ausgrenzung als Chance zu begreifen, sich unabhängig zu machen.

Die Subsistenztheorie legte sich der Reihe nach mit allen möglichen Politikformen an. Sie kritisierte die bürgerliche genauso wie die linke Entwicklungstheorie; sie kritisierte das Heldenpathos linker „Kampfformen“ ebenso wie eine weibliche Gleichberechtigungspolitik, die auf Nachahmung und Übernahme männlicher Lebensentwürfe hinausläuft; sie erteilte dem marxistischen Fortschrittsglauben dieselbe Absage wie modischen Ansätzen, dem männlichen Sozialcharakter ein paar Frischzellen zu verschaffen durch „Feminisierung“ oder Hinzuaddieren „weiblicher Anteile“. Daß sie sich in Europa deshalb die längste Zeit in einem ziemlich frostigen Klima behaupten mußte, ließ die Klärung offener, weiterführender Fragen als zweitrangig erscheinen.

Solche Fragen waren, ob eine derartige Perspektive wirklich attraktiv sein kann und nicht nur aus Zwang geboren wird; ob Subsistenz nicht das Herrschaftssystem stabilisiert, zu einer Selbstmarginalisierung und Nischenbildung beiträgt usw. Diese Fragen wurden häufig mit dem Verdacht beantwortet, an konsumistischen Wertvorstellungen festzuhalten und den Wert eines subsistenten „Lebens in Fülle“ nicht richtig einzuschätzen oder sich durch Theoretisieren der Notwendigkeit unmittelbarer, persönlicher Lebensveränderung zu entziehen. Dies hat eine gewisse Blockade in die Theorie und eine gewissen protestantisch-puritanischen Zug in die Praxis gebracht.

In den letzten Jahren wurden diese Fragen jedoch diskutiert und die Subsistenztheorie weiterentwickelt. Claudia von Werlhof macht z.B. einen Unterschied zwischen subsistenten Nischenprojekten und subsistenter „Dissidenz“ (im Sinne von Nichtanpassung, Andersdenken).

Die Beschäftigung mit diesen Fragen hat vor allem die politische Praxis nahegelegt: die Zunahme von Subsistenzprojekten auch hier im Norden; die stärkere Anerkennung der Subsistenztheorie als einer ”kopernikanischen Wende” in der Theorie der Befreiung; die notwendige kritische Auseinandersetzung mit Regionalisierungs- und Nachhaltigkeitskonzepten und schließlich die Tatsache, daß ausgerechnet ein bewaffneter Aufstand sich in vielen Punkten auf Elemente der Subsistenztheorie bezieht, nämlich die Revolution in Chiapas (Mexiko).

Ungelöste Fragen

Die vorläufige politische Bilanz der Subsistenztheorie hat folgende Fragen aufgeworfen, wo eine Präzisierung und Weiterentwicklung notwendig ist:

1. Subsistenzprojekte im Norden sind nach wie vor unattraktiv. Der sofortige, unmittelbare Ausstieg in kleinen Gruppen führt häufig nicht in ein ”Leben in Fülle”, sondern zu langen Arbeitszeiten, Selbstausbeutung, niedrigem Konsumniveau und gesellschaftlicher Isolierung. Das läßt sich auch nicht als Frage des Wertewandels abtun. Subsistenz kann inmitten eines hochindustrialisierten Umfelds keine autonomen Inseln schaffen. Die Projekte müssen ihren Tribut an das Umfeld entrichten (Bodenrente, Abgaben, Steuern…), was sie bei Strafe des Untergangs zur Geldbeschaffung zwingt. Dabei sehen sich ihre Produkte mit der Konkurrenz von Billiganbietern konfrontiert, die den ganzen Gewalt- und Raub-Apparat des herrschenden Systems nutzen; um überhaupt etwas verkaufen zu können, muß also unverhältnismäßig hart und viel gearbeitet werden. Daß die Projekte zu klein und zu wenig vernetzt sind, hält sie auf einem niedrigen Entwicklungsniveau von Subsistenz fest. Und schließlich läßt sich das Lebensniveau von Menschen nicht unabhängig von der sie umgebenden Gesellschaft betrachten. Armut ist eine Frage der Relation zur Restgesellschaft. In einer Gesellschaft, in der Information, Kommunikation, Zugang zu politischer und kultureller Öffentlichkeit etc. massiv vom Geld abhängen, führt das „gute Leben“ schnell zum Rückzug in die Nische und zur politischen Bedeutungslosigkeit. Auch ein Öko-Projekt braucht in Deutschland ein Auto, ein Telefon, einen Computer und einen Anwalt. Und zwar einen guten.

2. Weder Subsistenz-Nischen noch „Konsumbefreiung“ beenden das industriekapitalistische Herrschaftssystem. Die derzeitige ökonomische Umstrukturierung im Sinne einer ”nachhaltigen” Effektivierung und der ”Dienstleidtungsgesellschaft” sieht ja gerade vor, daß die breite Bevölkerung mit weniger Geld, Konsum und Umweltverbrauch auskommt, damit mehr für die Bedürfnisse des weltmarkt-orientierten Produktionssektors übrigbleibt. Unter diesen Bedingungen funktioniert das „Austrocknen der Wachstumslogik” nicht, im Gegenteil: die ”konsumbefreite” Selbstbeschränkung verhilft ihr eher zum Weitermachen. Die Praxis hat gezeigt, daß Subsistenz-Nischen auch eine gängige Methode sein können, um die Kosten des Sozialsystems zu privatisieren und die ökologischen Reparaturkosten abzuwälzen. Das gilt für viele staatlich geförderte Projekte im Norden genauso wie für Regionen der Dritten Welt, die erst marktwirtschaftlich ausgepreßt, dann der Bevölkerung „überlassen“ werden, um nach mühsamer ökologisch-ökonomischer Wiederherstellung erneut in den Akkumulationsprozeß integriert zu werden.

3. Was Subsistenz bedeutet, ist zwar dem Sinn nach klar, aber nicht wirklich definiert. Das ist kein abstraktes Problem, sondern ein sehr praktisches. Die Definition als „Orientierung auf das Lebensnotwendige“ reicht nicht aus. Denn was ist das Lebensnotwendige? In keiner Gesellschaft, auch keiner vorindustriellen und keiner zuküftigen ”nachhaltigen”, beschränken sich die Bedürfnisse der Menschen auf ihren bloßen Selbsterhalt. Jede Gesellschaft produziert Kultur, Technik, Unnützes und Abwegiges, individuelle Geschmäcker und Lebensstile – gerade eine freie Gesellschaft. In jeder Gesellschaft gibt es Arbeitsteilungen, Vernetzungen, Kooperation, kleinere und größere Organisationseinheiten. Wer kontrolliert, was erlaubt ist? Welcher Grad von Arbeitsteilung, welche Größe von ökonomischen Vorhaben ist nicht mehr „subsistent“? Wer legt fest, was zum „Leben in Fülle“ gehört und was verwerflicher Luxuskonsum ist? In der Praxis führt dies häufig zu einer absurden Konkurrenz nach dem Motto „Das brauchst du? Na, ich nicht!“ Das kann bis zu einer schwer erträglichen kulturellen Diktatur des Guten, Gesunden, Natürlichen gehen, die Eigeninitiative und abweichende Ideen erstickt.

4. Auch die Subsistenztheorie hat eine spezielle Neigung zur Öko-Falle. Sie besteht darin, das ökologisch korrekte Leben einfach so mit einem befreiten Leben gleichzusetzen und dadurch einer verwaschenen Vorstellung von Herrschaft und Befreiung Vorschub zu leisten. Dies äußert sich in einer Romantisierung vorindustrieller oder anti-industrieller Gesellschaften, deren Herrschaftsstrukturen ignoriert oder lyrisch überspielt werden; oder umgekehrt in einer allergischen Ablehnung jeder Form von Organisation und Leitung. Bei aller beriehtigten Kritik an Hierarchien, Anbiederung an Macht und Geld oder an männlicher Kampfromantik kann man trotzdem nicht davon ausgehen, daß Millionen individueller ”Aussteiger” ein Ende der kapitalistischen Wachstumsschraube herbeiführen werden. Wie der Aufstand in Chiapas zeigt, sind bestimmte Formen militärischer Verteidigung und auf jeden Fall eingreifende, organisierte Politik unentbehrlich. Wenn die industriell-kapitalistische Entwicklung auf gewaltsamer Aneignung beruht und nicht etwa auf ideologischer Manipulation, dann kann sie auch nicht dadurch beendet werden, daß alle vom guten Leben überzeugt werden. Umgekehrt beruht die Attrativität, die von kapitalistischen Verhältnissen auch ausgeht, gerade auf der individuellen Möglichkeit, sich aus den muffigen, altväterlichen Strukturen vorkapitalistischer (Dorf-)Gemeinschaften befreien zu können. Eine bloße Rückkehr kommt nicht in Frage.

Herrschaft abbauen statt Rückzug in die Nische

Überspitzt gesagt: eine Weiterentwicklung der Subsistenztheorie müßte zeigen, daß die angestrebte Alternative eben nicht unattraktiv, unfrei und ohnmächtig ist. Folgende Konsequenzen wären zu ziehen:

1. Die Vorstellung, Subsistenzperspektive sei mit dem massenhaften Auszug in Öko-Kommunen gleichzusetzen, muß zu den Akten gelegt werden. Subsistenz als Zielvorstellung kann aber bedeuten: eine Gesellschaft, in der die ganz überwiegende Zahl der Menschen die Möglichkeit hat, sich selbst zu versorgen – mit den Gütern des täglichen Bedarfs, aber auch sozial und kulturell. Auf welchem Niveau gesellschaflicher Organisation und mit welchen technischen Mitteln das geschieht, ist offen. In die heutige gesellschaftliche Situation übersetzt, ist Subsistenz eine individuelle Strategie und eine gesellschaftliche Orientierung. Als Möglichkeit der aktiven Bedürfnisbefriedigung für jeden einzelnen bedeutet Subsistenz, den Anteil der direkten, gemeinschaflichen Tätigkeit zu erhöhen gegenüber dem Anteil, der noch über die herrschenden Strukturen der Versorgung durch Lohnarbeit, Markt und Staat bezogen wird. Der Schwerpunkt liegt auf dem Ausbau jenes Bereichs, nicht auf dem Verzicht. Als gesellschaftliche Orientierung heißt Subsistenz, genau diesen Prozeß zu unterstützen. Dabei geht es vor allem um Regionen, die eine Subsistenzperspektive aufbauen wollen und sich dazu die Autonomie nehmen müssen, über herrschende rechtliche Beschränkungen hinauszugehen. Es bedeutet auch, Ausgleichs- und Schutzregelungen für den regionalen Sektor gegenüber dem Weltmarktsektor durchzusetzen.

2. Der Teil der Gesellschaft, der von der Wachstums- und Standortlogik profitiert und sie vorantreibt, kann nicht in Ruhe gelassen werden. Er muß aktiv behindert, eingeschränkt, abgebaut werden. Er verbraucht schließlich das, was anderen fehlt, und rüstet damit seinen Herrschaftsapparat auf. Der Herrschaftskonsum (siehe Teil 8, Dez. 97*) und die Strukturen des Weltmarktsektors im eigenen Land müssen zurückgedrängt werden, wenn ”Subsistenzperspektive” mehr werden soll als eine individuelle Nische in selbstgewählter Armut. Der Streit darüber, ob Subsistenzprojekte sich ”korrekt” („dissident“) verhalten, führt zu nichts; notwendig ist eine gemeinsame, organisierte Anstrengung dafür, „den Rest“ abzubauen.

3. Geht man von den bisherigen Überlegungen zu Natur und Herrschaft aus (siehe Teil 7ff), ist eine subsistente Gesellschaft einfach eine Gesellschaft mit minimalem Herrschaftskonsum, die nicht auf Kosten anderer lebt. Weitere Vorgaben kann es nicht geben. Für welche kleinen oder großen Projekte eine regionale Gesellschaft ihre Arbeit und Ressourcen lieber investiert, wie „gesund“ oder „grün“ sie lebt, ist dabei nebensächlich. Es kann kein ”Diktat des Natürlichen“ geben. Entscheidend ist der Prozeß, die Ausbeutungsverhältnisse nach außen abzubauen und umgekehrt die Kontrolle über die eigenen Ressourcen zu behalten. Welches technische Niveau dabei herauskommt, welche Formen von städtischem oder ländlichem Leben man sich leistet, welche Marotten und welche Ästhetik sich ausprägt, wird sich zeigen und wird verschieden sein. Richtschnur ist allerdings, daß so wenig Arbeit und Ressourcen wie möglich dafür aufgewendet werden, den Herrschaftskonsum der Gesellschaft zu bestreiten: Machtmittel, Repräsentation, ökonomische und technologische Waffen gegenüber anderen Regionen und der eigenen Bevölkerung.

4. Macht und Organisation sind kein Tabu, weder individuell noch gesellschaftlich; sie sind nicht dasselbe wie Herrschaft. Macht ist die Möglichkeit, gesellschaftliche Ressourcen und fremde Arbeit für eigene Projekte zu benutzen. Sie ist nie völlig gleichverteilt; es ist für niemand eine Perspektive, sie abzuschaffen, und sie ist nichts von vornherein Negatives. Wir erwarten schließlich von einer Gesellschaft, daß sie Dinge realisiert, die man allein nicht realisieren kann. Entscheidend ist, daß es Gegenseitigkeiten gibt – eine Struktur, wo alle zu verschiedenen Zeitpunkten zum Zug kommen. Erst wenn sich die Struktur einseitig verfestigt, wird sie zum Herrschaftsverhältnis. Auch augenscheinlich subsistente Gemeinschaften (ob historisch oder modern) sind deshalb keineswegs von vornherein „frei“; sie bieten allerdings Raum für Auseinandersetzungen, sofern die Herrschaftsmittel gering sind. Diese Auseinandersetzungen müssen offen und zulässig sein. Eine Norm „wie sehen subsistente Gemeinschaften und subsistente Menschen aus“ (wie sie in der „Szene“ existiert und gegen abweichendes Verhalten verwendet wird) ist nichts anderes als ein Herrschaftsversuch, der nicht unwidersprochen bleiben darf. Umgekehrt ist der Anspruch, eine Subsistenzorientierung für die eigene Region oder die eigene Gemeinschaft durchzusetzen, natürlich auch eine Frage von Macht: sie vollzieht sich nicht unabhängig vom Drumherum. Menschen, die auf eine solche Orientierung hinarbeiten sollen (mit all ihren Konsequenzen der Autonomie), haben Anspruch darauf, daß sie auch gemeinsam durchgesetzt und verteidigt wird. Alles andere wäre ein unverantwortliches Verheizen.

Geht man in die hier dargestellte Richtung, dann folgt daraus eine Politik der Abwicklung, wie sie im nächsten Teil noch etwas greifbarer dargelegt wird.

Christoph Spehr

Literatur:

Veronika Bennholdt-Thomsen, Maria Mies: Eine Kuh für Hillary. Die Subsistenzperspektive. München 1997

Claudia Bernhard: Die patriarchale Gleichberechtigungsgesellschaft, in: FORUM entwicklungspolitischer Aktionsgruppen 185, Bremen 1994

Werner Ernst, Annemarie Schweighofer, Claudia v. Werlhof (Hrsg.): Herren-Los. Frankfurt/M. 1996

Maria Mies, Vandana Shiva: Ökofeminismus. Zürich 1995

Heinz-Jürgen Stolz: Subsistenz – Alternative für den Norden? In: FORUM entwicklungspolitischer Aktionsgruppen 187, Bremen 1994

Claudia v. Werlhof: Mutter-Los. München 1996

Claudia v. Werlhof: Subsistenz – Abschied vom ökonomischen Kalkül (Artikelsammlung), In: DER RABE RALF, Berlin 1994*

Aus: Christoph Spehr, ”Die Ökofalle –
Nachhaltigkeit und Krise”, Promedia
Verlag, Wien 1996, 240 S., 34,- DM.


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