Matriarchate als herrschaftsfreie Gesellschaften

Aus DER RABE RALF September 1998

Es gilt als Selbstverständlichkeit, daß keine herrschaftsfreien Gesellschaften existieren und Matriarchate – mutterrechtliche, frauenbestimmte Gesellschaften – ohnehin nicht. Das liegt allerdings nur daran, daß man ein völlig anderes Gesellschaftssystem nicht mit den eigenen, zur Norm gewordenen Kriterien erfassen kann. Die moderne Matriarchatsforschung, wie sie die Autorinnen und Autoren dieses Buches verstehen, relativiert jedoch diese Glaubenssätze – und durch die Beschäftigung mit einem Gegenbild läßt sich die Herrschaftsstruktur unserer Gesellschaft besser beschreiben und verstehen.

Herrschaftsfreie Beziehungen haben sich zum Teil bis heute erhalten, und es ist eine Tatsache, daß viele matriarchale Gesellschaften erst in der Neuzeit durch Kolonisisation und Missionierung ”zivilisiert” wurden. Das vorliegende Buch bringt dazu sowohl theoretische Erläuterungen als auch praktische Beispiele in zum Teil bisher unbekannten Artikeln.

Die Zusammenstellung eröffnen zwei einführende Beiträge von Heide Göttner-Abendroth, der wichtigsten deutschsprachigen Matriarchatsforscherin. Sie legt zunächst dar, was unter ”Matriarchat” überhaupt verstanden werden kann – nämlich gerade nicht die oft vermutete ”Herrschaft” von Frauen, wohl aber ihre Verfügungsmacht über die wesentlichen Lebensgrundlagen und ihre hervorgehobene soziale Stellung. In ”Matriarchate als herrschaftsfreie Gesellschaften” unterscheidet sie zwischen “Herrschaft” und ”natürlicher Autorität” und skizziert den historischen Prozeß der Entstehung des Patriarchats. Matriarchate, so die Autorin, sind ”regulierte Anarchien” ohne eine befehlende Zentralinstanz. Christian Sigrist, von dem dieser Begriff stammt, liefert im folgenden eine brillante gesellschaftstheoretische Analyse, in der es um herrschaftsfreie Gesellschaften, um die Entstehung von Herrschaft sowie um Gleichheitsbewußtsein und erfolgreichen Widerstand geht.

Als Beispiele für ”regulierte Anarchie” folgen zwei Beiträge über die Canela- und die Xingu-Indianer in Südamerika. Zwei der besten deutschsprachigen Berichte über die Irokesen in Nordamerika liefern sodann Karl-Heinz Schlesier und Irene Schumacher. Eindrücklich schildern sie die sozialen Formen einer klassisch-matriarchalen Gesellschaft und ihren Überlebenskampf.

Zu den klassischen Beispielen der Ethnologie gehören die Trobriander in Melanesien, eine Gesellschaft mit sehr vielen matriarchalen Relikten. Da sich Wilhelm Reich bei seiner Beschreibung auf die ethnologischen Ergebnisse von Bronislaw Malinowski stützen konnte, bleibt seine Abhandlung über die Erziehung und Sexualität konkret und anschaulich. Malinowski selbst beschreibt darauf kurz den Zusammenhang von Matriarchat und Widergeburtsauffassung.

Es folgt ein Bericht von Heide Göttner-Abendroth über die Mosuo in China und ihr soziales und mythologisches System, aber auch ihre schwierige politische Situation; illustriert mit einigen Fotos. Der Artikel über die Altvölker Taiwans von Kurt Derungs beschreibt die Patriarchalisierung dieser südostasiatischen Region. Dabei spielen sowohl östliche Patriarchate als auch die europäische Kolonial- und Missionierungspolitik eine Rolle. Die Mosaiksteine aus verschiedenen Wissensgebieten, die der Autor zusammensetzt, zeigen, daß auch diese Stammesgesellschaften matriarchale und herrschaftsfreie Strukturen kannten.

Ein weiteres klassisches ethnologisches Beispiel sind die Minangkabau auf der indonesischen Insel Sumatra. Auch sie haben eine lange Kolonialgeschichte bis hin zum modernen islamischen Zentralstaat, so daß es vor allem darum geht, ihre traditionelle Gesellschaft, die matriarchalen Spuren und Relikte, in ein Gesamtbild einzuordnen. Während Keebet v. Benda-Beckmanns eine gelungene Reportage mit einem Einblick in die alltäglichen Lebensabläufe der ländlichen Minangkabau und deren Geschlechterverhalten liefert, analysiert Cillie Rentmeister die soziokulturellen Zusammenhänge. Erschreckend ist nicht nur, wie die matriarchale Gesellschaftsstruktur durch Zentralgewalten verflüchtigt wird, sondern auch, wie schnell die Umwälzungen in den letzten Jahrzehnten vor unseren Augen ablaufen.

Das gilt für alle beschriebenen Gesellschaften; so auch für die Khasi, die in ihrem gebirgigen Assam-Gebiet in Nordindien heute wieder um ihre Selbstbehauptung kämpfen. Carl Becker, der die Khasi-Gesellschaft um die Jahrhundertwende kennenlernte, beobachtet sehr genau, wie die christliche Missionierung die Sippen der Khasi entzweit und entfremdet, d.h. wie eine Patriarchalisierung von außen (Hinduismus, britische Kolonialisation, Christianisierung, indische Zentralregierung) die heutigen sozialen und ökologischen Verhältnisse schafft. Religionsgeschichtlich interessant ist der kurze Beitrag von Rolf v. Ehrenfels, der mit einem konkreten Beispiel den sogenannten ”Hochgottglauben” relativiert – wenn nicht sogar als missionarische Wunschprojektion enttarnt.

Die Verschiedenartigkeit der Beiträge zeigt, wie vielfältig die Beschäftigung mit matriarchalen Gesellschaften sein kann. Für Leserinnen und Leser, die sich von diesem Buch anregen lassen, sich eingehender mit dem Thema zu beschäftigen, bietet der wissenschaftstheoretische Schlußartikel von Heide Göttner-Abendroth eine Möglichkeit, die soziale, ökonomische, rituelle und mythologische Ebene in ein Gesamtsystem einzuordnen. Zusammen mit den reichhaltigen Literaturhinweisen wird das Buch so zur echten Fundgrube. Auch wenn man die beschriebenen Gesellschaftsformen nicht als befreiende Perspektive sehen mag, bleibt die Erkenntnis: Gewalt, Unterdrückung und Umweltzerstörung liegen nicht in der ”Natur des Menschen”.

K.D./mb

Heide Göttner-Abendroth/Kurt Derungs (Hrsg.):
Matriarchate als herrschaftsfreie Gesellschaften
edition amalia, Bern 1997


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