Allein im „Einfamilienhaus“

Aus DER RABE RALF Februar/März 2024, Seite 6

Gut, dass die Neubauziele verfehlt werden. In der Krise muss es um den Bestand gehen

Auch in Berlin gibt es viele „Einfamilienhäuser“. (Foto: Bodo Kubrak/Wikimedia Commons)

Das Ehepaar Russo wohnt in einem Haus im Speckgürtel von Berlin. Pünktlich zum Auszug ihrer jüngeren Tochter vor mehr als einem Jahrzehnt haben Sie den Kredit abbezahlt. Das Haus gehört seitdem den Russos alleine – allerdings wohnen Sie auch nur noch zu zweit in dem „Einfamilienhaus“. Sie sind damit ein typisches Beispiel, denn mittlerweile wohnen 68 Prozent der deutschen Einfamilienhaus-Eigentümer:innen allein oder zu zweit.

Unsichtbarer Leerstand

Die Russos haben die Ruhe und den neu gewonnen Platz in ihrem Haus in den ersten Jahren durchaus genossen. Da beide Töchter ihre Ausbildung in anderen Städten machen und nur alle paar Monate zu Besuch kommen, teilen sie sich ein (Gäste-)Zimmer. Das andere ehemalige Kinderzimmer nutzen die Eltern seitdem als Hobbyraum. Der Raum ist allerdings kaum in Gebrauch. Expert:innen sprechen von unsichtbarem Leerstand oder ungenutztem Wohnraum.

Die Ruhe im Haus genießen die Russos zwar weiterhin, sie würden sich aber auch über mehr Gesellschaft im Alltag freuen. Darüber hinaus wird die Instandhaltung des Hauses mit Garten zunehmend kräftezehrend. Eine Vermietung von Teilen des Hauses, mit der ein barrierefreier Umbau finanziert werden könnte, eine Alters-WG oder ein Umzug in eine kleinere Wohnung wären eigentlich sinnvolle Optionen. Doch oft sind Veränderungen der Wohnsituation mit viel Arbeit und meist noch mehr Bedenken verbunden und werden immer weiter aufgeschoben. Das gilt auch für die notwendige energetische und barrierefreie Sanierung.

Das Ehepaar Russo – ein fiktiver Fall – steht exemplarisch für den sogenannten Remanenzeffekt, auch Empty-Nest-Syndrom genannt. Beides beschreibt Eltern, die nach dem Auszug ihrer Kinder allein in einer großen Wohnung verbleiben – im „leeren Nest“. Weil das ein Massenphänomen ist, steigt der Wohnflächenverbrauch seit Jahrzehnten kontinuierlich an. Einfamilienhaus-Besitzer:innen, die zu zweit wohnen, kommen im Schnitt auf 62 Quadratmeter pro Person – und wenn sie allein wohnen, sogar auf 101 Quadratmeter.

Wohnungstausch und „Wohnen gegen Hilfe“

Eine Veränderung der Wohnsituation findet bei älteren Eigentümer:innen, wenn überhaupt, oft erst in hohem Alter statt, wenn der körperliche Zustand einen Auszug erzwingt. Eine aktive Gestaltung der Wohnsituation bleibt meist aus. In abgeschwächter Form gilt das auch für den Mietsektor. Es ließe sich also viel damit erreichen, das Wohnen im Alter und das Phänomen des ungenutzten Wohnraums stärker in den Blick zu rücken und besonders Menschen, die große Wohnungen bewohnen, bei gewünschten Veränderungen zu unterstützen.

Sowohl das Vermieten von Teilen der eigenen Wohnung als auch Umzüge in kleinere Wohnungen sollten staatlich gefördert und planmäßig mit energetischer und barrierefreier Sanierung verbunden werden. Um attraktive Alternativen für Mieter:innen großer Wohnungen zu schaffen, muss es aber auch bezahlbare, barrierefreie Wohnungen geben, die möglichst im alten Wohnumfeld liegen. Neben dem Neubau kann hier ein Recht auf Wohnungstausch helfen.

Ein weiterer Baustein sind kommunale Beratungsstellen, die Wissen zu Sanierung und Umbau sowie zu gemeinschaftlichen Wohnformen und Fördermöglichkeiten bereitstellen, wie es heute etwa schon durch die Wohnraumagentur Göttingen geschieht.

Zusätzlich sollten Programme wie „Wohnen für Hilfe“ ausgebaut werden. Dabei werden hilfsbereite Wohnungssuchende an Personen vermittelt, die im Alltag Unterstützung brauchen und dafür Wohnraum zu günstigen Konditionen zur Verfügung stellen. Die wenigen hier schon bestehenden Programme sind bisher jedoch notorisch unterfinanziert, und in Berlin gibt es gar kein solches Angebot. Dass sich ein Ausbau dieser Strukturen lohnen würde, zeigen die Zahlen des „Wohnwendeökonomen“ Daniel Fuhrhop, der für Deutschland ein jährliches Potenzial von 30.000 Vermittlungen pro Jahr prognostiziert.

Neubau kann Probleme nicht mehr lösen

Ein aktiver Umgang mit dem Wohnen im Alter und dem damit oft verbundenen ungenutzten Wohnraum ist für die gesamte Gesellschaft von Bedeutung. Neben Barrierefreiheit und Energiesanierung sowie dem zunehmenden Problem der Einsamkeit geht es auch um die Schaffung von Wohnraum. Denn bezahlbarer Wohnraum ist knapp, obwohl allerorts mit großem Energie- und Materialaufwand neu gebaut wird. Dabei wird aber zum einen am Bedarf vorbei gebaut – Stichwort Luxusimmobilien –, zum anderen wird das Angebot durch den steigenden Wohnflächenverbrauch wieder „aufgefressen“. Während der Wohnungsbestand in Deutschland seit 1950 um 178 Prozent gewachsen ist, hat sich die Bevölkerung nur um 20 Prozent vergrößert. Es gibt also theoretisch genug Wohnraum, er muss „nur“ besser genutzt werden.

Natürlich ist stellenweise auch Neubau notwendig, gerade in gefragten Städten wie Berlin. Dieser ist jedoch auf das Nötigste zu begrenzen. Denn der Bau- und Gebäudesektor verbraucht in Deutschland heute 90 Prozent aller Rohstoffe und verursacht 40 Prozent der CO₂-Emissionen (Rabe Ralf Februar 2021, S. 6).

Neben staatlichen Beratungs- und Unterstützungsangeboten für Bewohner:innen bedarf es auch eines Kulturwandels im Bereich des Wohnens. Der begrenzte Wohnraum sollte fair verteilt und die Wohnverhältnisse sollten an die aktuellen Bedürfnisse angepasst werden, soweit die Umstände es zulassen.

Arthur Haus

Die Grüne Liga bietet Vorträge für Kommunen und lokale Initiativen zu diesem Thema an. Kontakt: wohnflaeche@grueneliga.de

Weitere Informationen: www.grueneliga.de/wohnen

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