Aus DER RABE RALF Dezember 2016/Januar 2017, Seite 1/4
Naturschutz? Tierrechte? Energiewende? Wir müssen erst über Ungleichheit reden
Die Deutschen reden gerne über die Moral. Von links bis rechts, quer durch das politische Spektrum. Dieser Text dreht sich nicht um Moral. Dieser Text dreht sich um das Fressen, nämlich um Wirtschaftspolitik. Um die Verteilung von Geld und Wohlstand. Seit der neoliberalen Wende in den späten 1990er Jahren herrscht über fundamentale Fragen der Wirtschaftspolitik praktisch Konsens bei den politischen und gesellschaftlichen Eliten dieses Landes, ja geradezu Sprachlosigkeit. Wo Konsens herrscht, braucht man nicht mehr zu diskutieren, nicht mehr zu argumentieren – man verlernt es sogar. Es hat sich der Glaube durchgesetzt, die aktuelle Wirtschaftspolitik sei „alternativlos“. Angela Merkel hat sie sehr treffend als „marktkonforme Demokratie“ beschrieben. Der „demokratiekonforme Markt“ gehört längst der Vergangenheit an.
Dieser Konsens äußert sich nicht nur in aktiver Zustimmung zu der marktliberal geprägten Wirtschaftspolitik, wie man sie vor allem in wirtschafts- und politiknahen Kreisen beobachten kann. Er äußert sich auch in der Unfähigkeit, diese Wirtschaftspolitik als Krisenursache zu erkennen.
Eine Zwei-Drittel-Gesellschaft
Deutschland ist ein Land, dem es ökonomisch gut geht. Aber schaut man näher hin, merkt man, es sind die oberen zwei Drittel, denen es gut geht. Deutschland ist das Land mit der größten sozialen Ungleichheit des ganzen Euroraums. Es gibt in diesem Land ein Drittel Abgehängte, prekär Beschäftigte, Minijobber, Aufstocker. Die Verlierer der Globalisierung, Digitalisierung, Flexibilisierung und anderer Entwicklungen, die von den politischen Eliten vorangetrieben wurden und werden, sind die weniger Gebildeten, weniger Qualifizierten, prekär Beschäftigten. Sie sind zu sehr damit beschäftigt, irgendwie über die Runden zu kommen, um sich mit den Problemen zu befassen, die die oberen zwei Drittel haben. Etwa jeder fünfte Deutsche ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Bei der Reallohnentwicklung ist Deutschland seit 2000 eines der Schlusslichter in der EU.
Das Gesellschaftsmodell einer liberalen Demokratie gibt es in immer mehr Ländern nur noch in Kombination mit einer neoliberal deregulierten Marktwirtschaft auf dem Wahlzettel. Eine „soziale Marktwirtschaft“ ist ein Auslaufmodell – die gibt es nämlich nur mit Umverteilung, und zwar von oben nach unten. Genau diese Umverteilungs-Komponente ist der neoliberalen Ideologie zum Opfer gefallen, und deshalb gibt es so viele Verlierer. Sie nehmen das liberale Gesellschaftsmodell, die Demokratie selbst nur noch als Eliten-Projekt wahr, das ihnen nichts bietet. Eine auf einen liberalen Markt reduzierte Demokratie wird nicht mehr als Chance zur Veränderung wahrgenommen, sondern als Problemursache.
Versetzen wir uns mal in die Lage eines prekär beschäftigten oder arbeitslosen Menschen in Frankreich. Die Hoffnung darauf, dass es dir besser geht als deinen Eltern, hast du aufgegeben. Die Hoffnung, dass es dir einfach nur genauso gut geht wie ihnen, auch. Wenn du einen Job hast, reicht er immer seltener, um eine Familie zu ernähren. Jeder vierte Jugendliche ist arbeitslos. Aber das ist kein Thema für die Politik deines Landes. Deswegen rettet die Wirtschaftspolitik zwar Banken und reiche Anleger, aber nicht dich.
Das Vakuum füllen die Rechten
In Frankreich finden Sozialisten, Konservative und Grüne schlichtweg keine Antworten darauf, dass immer mehr Menschen Angst um ihre Zukunft haben. Deshalb sind die dortigen Wahlergebnisse auch keine Überraschung. Frankreich hat nicht 30 Prozent Rechtsradikale, sondern 30 Prozent Menschen, denen die Politik nichts anzubieten hat, die die Heilsversprechen von Globalisierung und Liberalisierung, von Sparpolitik und neoliberalen „Reformen“ nicht mehr glauben.
Diesen Menschen hat aber auch jedwede Ausprägungsform „progressiver“ Politik nichts mehr zu bieten – weder Parteien noch Zivilgesellschaft. Die Lebensrealitäten des unteren Drittels sind den oberen zwei Dritteln weitgehend fremd und gleichgültig – das gilt für Parteien, Medien und Zivilgesellschaft gleichermaßen. So füllen andere ein Vakuum, das die „progressive Zivilgesellschaft“ selbst nicht füllen will.
Die bildungsbürgerlich geprägte „progressive Zivilgesellschaft“ engagiert sich für Fragen, die ihr eigenes Milieu interessant findet. Sie kämpft gegen TTIP, weil es die europäischen Standards bedroht. Amazon und McDonald’s bedrohen die europäischen Standards aber jetzt schon und versuchen Betriebsräte oder Tarifverträge mit allen Mitteln zu verhindern. Wochen- und monatelange Verdi-Streiks bei Amazon für die Einführung solch elementarer Errungenschaften interessieren niemanden. Die Aldi-Kassiererin mit Mindestlohn, die Minijob-Aufstockerin in einem Reinigungsbetrieb findet in den Diskursen der intellektuellen Zivilgesellschaft nichts, was ihre Lebensrealität berührt, nämlich die ganz normale Ausbeutung in „spezifisch weiblichen“ Berufen. Wer hat sich mit den Streiks der Kita-Erzieherinnen, den Streiks der Charité-Krankenschwestern solidarisiert? Fast niemand. Unsere Gesellschaft bezahlt Millionengehälter für diejenigen, denen sie ihr Geld anvertraut (vorwiegend Männer), aber nur den Mindestlohn für diejenigen, denen sie ihre Kinder, ihre Alten und ihre Kranken anvertraut (vorwiegend Frauen). Kein Thema für die „progressive Zivilgesellschaft“. Sie handelt nach der Devise: Ich fordere Moral, um das Fressen sollen sich andere kümmern. Das kann nicht gutgehen.
Es geht auch anders
Es war nicht immer so, dass die „progressive Zivilgesellschaft“ das Fressen ausgeblendet hat. Und es gibt Hoffnung, dass sich das wieder ändert. Die Agraropposition entwickelt sich immer mehr zu einem Bündnis von Verbrauchern und Bauern für eine andere Landwirtschaft und Ernährungskultur. Ein Bündnis von Bauern und Verbrauchern entwickelt politische Dynamik, nicht eine Bewegung urbaner Veganer, Tierschützer oder Umweltschützer gegen Bauern.
Auch die breite Bewegung gegen TTIP gibt Anlass zur Hoffnung. Immer mehr Menschen merken, dass TTIP kein isoliertes Symptom, sondern Ausdruck einer grundlegend falschen wirtschaftspolitischen Orientierung ist. Wenn die Reichen immer reicher werden und die Ungleichheit immer größer, dann stimmt die Richtung nicht. Das gilt im eigenen Land genauso wie in der Welt. Es geht um mehr als nur den Stopp von TTIP, sondern um einen gerechten Welthandel. Den kann es nur mit einer anderen Wirtschaftspolitik in Europa, in Deutschland geben. Darum geht es. Die TTIP-Bewegung liefert nicht die eine Antwort, die sie selbst gar nicht haben kann – aber sie sorgt dafür, dass die Diskussion über Alternativen endlich geführt wird, und zwar ergebnisoffen.
Eine „progressive Zivilgesellschaft“ verdient diesen Namen nur, wenn sich wirklich für eine Politik einsetzt, die dem unteren Drittel der Gesellschaft wieder Perspektiven bietet. Sie wird es nicht verhindern können, dass es Rechtsradikalismus gibt. Aber sie kann viel dazu beitragen, dass er nicht von 30 Prozent der Bevölkerung gewählt wird. Es wird Zeit, dass die Zivilgesellschaft aus dem Schneckenhaus ihrer subkulturellen und oft genug elitären Nischen herauskommt und sich einmischt. Einmischt in die Realitäten eines auseinanderdriftenden Landes. Einmischt in das reale Leben, vor allem derjenigen, denen die marktliberale Politik der Eliten nichts mehr zu bieten hat. Dazu muss man vor allem mit diesen Leuten reden, auf Augenhöhe und in normaler Sprache, und nicht nur über sie. Ihre Sorgen und Bedürfnisse ernst zu nehmen heißt auch bei solchen Auseinandersetzungen selber mal zuzuhören, dazuzulernen und nicht nur den anderen mal beizubringen zu wollen, wo es langgeht.
Deshalb: Wir müssen endlich wieder über das Fressen reden! Dringend! Über die Moral reden wir schon genug.
Jürgen Maier
Der Autor ist Geschäftsführer des Forums Umwelt und Entwicklung, eines Bündnisses von mehr als 60 Organisationen. Er engagierte sich zuletzt besonders in Bündnissen gegen TTIP. Eine Langfassung seines Artikels erschien unter www.denkhausbremen.de/oben-und-unten