Tschernobyl – Spitze eines Eisberges

Weil die Natur seit Jahrhunderten feindlich behandelt wurde, tritt sie uns nun feindlich entgegen

Aus DER RABE RALF April 1996

Der folgende Text ist fast 10 Jahre alt.[Erscheinungsdatum im RABE RALF] 1986, nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, schien es eine Zeitlang, als ob die Tage der Atomindustrie gezählt seien. Heute machen deutsche Firmen osteuropäische Schrottreaktoren der Tschernobyl-Klasse fit für zehn weitere strahlende Jahre, regionale Möchtegern-Führungsmächte basteln an Kernwaffen – und die Menschen in der verseuchten Tschernobyl-Region sind fast vergessen. „10 Jahre Tschernobyl“ ist für uns nicht nur ein Anlaß, an eine industrielle Katastrophe und ihre furchtbaren Folgen zu erinnern, wir wollen auch nach den Hintergründen fragen und danach, was wir daraus lernen können (oder müssen). Denn die „Macher“ in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft haben aus Tschernobyl nichts gelernt.

Alles ist anders – aber auch gleich

Endlich ist Frühling, alles grünt und blüht, es wird wärmer. Aber überall stehen unsichtbare Warnschilder: ”Rühr mich nicht an! Ich bin verseucht!” Wir können die Bäume, das Gras, die Blumen, den Salat nur noch mit den Augen ”genießen”, so, als ob das Ganze ein Fernsehprogramm wäre, aber wir können mit der Natur nicht mehr als lebendige Wesen in Beziehung treten. Die Kaputtesten unter uns, die Maschinen-Menschen, Maschinen-Männer, stört das vielleicht nicht einmal besonders. Ihre Sinnlichkeit ist sowieso schon reduziert auf ein mechanisches Reagieren. Aber die Lebendigsten, die Kinder, viele Frauen und einige Männer, empfinden dies als einen großen Schmerz, diese körperliche Trennung von den anderen Lebewesen um uns herum: von den Pflanzen, dem Regen, der Erde, der Luft, den Tieren.

Viele Frauen empfinden dies als Angriff auf ihre Lebenslust und ihren Lebensmut, so als ob die Radioaktivität bereits in ihren Körper gekrochen wäre. Ein dumpfes Unwohlsein unter der Magengegend. Der Anblick des Frühlings und der Kinder wird zur Qual. Wozu noch weitermachen wie bisher? Wozu noch Pläne machen? Zu der körperlichen Verseuchung kommt die psychische.

Dennoch versuchen sie zu leben, kaufen ein, putzen, kochen, gießen die Blumen, so wie immer. Dennoch versuchen sie, das Leben weiter zu erhalten und zu schützen. Doch dies bedeutet nach Tschernobyl, wie immer in Kriegszeiten, mehr Arbeit. Während die Atomlobby in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft immer noch davon redet, daß Atomenergie unverzichtbar sei, müssen die Frauen dafür sorgen, daß relativ unverseuchtes Zeug auf den Tisch kommt, und sich fragen, was sie denn noch kochen sollen. Salat und Spinat gehen nicht, frische Milch auch nicht, was ist mit Joghurt und Käse? Auch Wurst und Fleisch sind gefährlich.

Sie müssen die Kinder bei schönem Wetter im Haus halten, sie müssen sie dauernd waschen, sich ihr Gequengel anhören und sie unterhalten. Für die ”Verantwortlichen”, die uns diese Technik beschert haben, ist es leicht zu verordnen: Die Kinder dürfen nicht in Sandkästen spielen.

Sie brauchen sie ja nicht zu hüten.

Und was ist mit den Schwangeren? Welche Lähmung, welche Ängste machen sie durch? Wollen sie abtreiben? Wird es ihnen so gehen wie den Schwangeren in Bhopal oder auf dem Mururoa-Atoll, die man mit der Aussicht auf ein behindertes Kind allein gelassen hat?

Frauen sind es, die sich verantwortlich fühlen für die Erhaltung des unmittelbaren Lebens, in der Sowjetunion wie hier. Sie sind es, die Angst haben, ihre Familie zu vergiften, nicht ihre Männer. Auf ihnen lasten die Schuldgefühle, nicht auf dem Staat und den Wissenschaftlern. Was jene Frau aus Moskau den Reportern sagte, trifft auch für den Westen zu: ”Männer denken nicht an das Leben, sie wollen nur die Natur und den Feind bezwingen, was immer es koste” (taz 12.5.86).

Lehren aus Tschernobyl

Was in Tschernobyl geschehen ist, kann so schnell nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Diese Technik ist irreversibel. Das wußten wir vorher. Was wir tun können? Aus diesem Geschehen – endlich – die richtigen Lehren ziehen und entsprechend handeln, um Schlimmeres zu verhüten. Diese Lehren sind nicht neu, aber sie haben eine neue Dringlichkeit erfahren.

Es gibt keine individuelle Rettung mehr.
Die Illusion, daß ”ich allein” vielleicht noch meine Haut retten kann, ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. Solange solche Katastrophen anderswo geschahen, konnten wir den Politikern noch glauben, daß sie alles unter Kontrolle hätten, daß bei uns alles ”sicher” sei. Das geht jetzt nicht mehr.

Die Erde ist endlich.
Sie kann nichts ausscheiden. Was die modernen Maschinen-Menschen ihr irgendwo antun, wird irgendwann und irgendwo auf sie und uns alle zurückschlagen. Auch das Entfernteste kann plötzlich das Nächste sein, denn alles hängt mit allem zusammen. ”Unendlicher Fortschritt” ist daher ein lebensbedrohender Mythos, weil er uns weismacht, wir könnten die lebendige Natur, zu der wir selbst gehören, ungestraft unterwerfen und rücksichtslos ausbeuten. Weil die Natur seit Jahrhunderten feindlich behandelt wurde, tritt sie uns nun feindlich entgegen.

Das Vertrauen in die ”Verantwortlichen” ist lebensgefährlich.
Das Verhalten der Wissenschaftler und Politiker nach der Tschernobyl-Katastrophe hat mehr denn je deutlich gemacht, daß diese ”Verantwortlichen” – im Osten wie im Westen – Zyniker sind, denen es nur um ihre Machterhaltung geht. Deutlich wird das an der Manipulation der Grenzwerte für Strahlenbelastung. Sie sind eindeutig eine politische Größe und werden je nach politischer Brauchbarkeit rauf und runter gesetzt.

Die ”Verantwortlichen“ reagieren nur da, wo sie fürchten, finanzielle Haftung übernehmen zu müssen, oder wo sie um Wahlverluste bangen. Nur da zahlen sie eine Entschädigung, z.B. an Bauern und Händler. Ihre ”Verantwortung” beschränkt sich auf das Geld und die Macht. Eine Verantwortung für das Leben und die Menschen kennen sie nicht. Darum käme es ihnen auch nie in den Sinn, den Frauen eine Entschädigung für die zusätzliche Entseuchungs- und Lebenserhaltungsarbeit zu zahlen. Ohnehin ist diese Arbeit mit Geld nicht zu bezahlen, denn Geld kann zerstörtes Leben nicht wiederherstellen. Das hat das Geld mit der Atomkraft gemeinsam: es besteht aus getötetem Leben, und der Prozeß der Lebenszerstörung ist unumkehrbar.

Wissenschaft und Politik haben keine Moral.
Vor allem deshalb ist das Vertrauen in die herrschenden Männer in Wissenschaft und Politik lebensbedrohend. Beide Gruppen oder Männerbünde haben sich seit langem dem Kapital angedient, aus Geld- und Machtgier und aus Eitelkeit. Warum sind denn so viele Wissenschaftler bereit, an Projekten zu forschen, die nur aus dem Militärhaushalt bezahlt werden können? Warum lehnen sie so etwas nicht schlichtweg ab? Sie müßten ja deshalb nicht verhungern. In den USA leben 60% der Wissenschaftler von Mitteln des Pentagon. Selbst kritische Wissenschaftler, die vor den Folgen der Technik warnen, die sie selbst hergestellt haben, trennen immer noch strikt zwischen der angeblich ”wertfreien”, das heißt moralfreien Grundlagenforschung und ihrer angeblich nützlichen oder schädlichen Anwendung, über die die Politiker zu entscheiden hätten. Sie spalten sich selbst auf in einen politisch handelnden Bürger und einen ”wertfreien”, das heißt unmoralischen Wissenschaftler, der keine Grenzen für seinen ”unendlichen Forscherdrang” anerkennt. Auf die Frage, wo er denn die Grenzen seiner Forschung sähe, antwortete z.B. Prof. Starlinger, renommierter Gen-Forscher aus Köln und gleichzeitig Erstunterzeichner des Krefelder Appells gegen die Nato-Nachrüstung, diese Grenzen gäbe es nicht, denn um erkennen zu können, wo die Gefahren einer bestimmten Technik lägen, müsse man sie erst gemacht haben. Erst danach müßten die gesellschaftlichen Gruppen demokratisch entscheiden, ob sie diese Technik anwenden wollten oder nicht. Das heißt: Um die Grenzen der Atomtechnik erkennen zu können, muß man erst die Atombombe gebaut haben.

Um die Grenzen der Gentechnik erkennen zu können, müssen die Forscher, ungehindert durch Moral, Ängste und Emotionen, vor allem ungehindert durch finanzielle Einschränkungen, die Gene manipulieren dürfen. Die Moral soll erst dann kommen, wenn die Technik schon da ist, erst bei der „Technikfolgeabschätzung“ – nicht bei der Entscheidung, womit sich der „unbezwingbare Forscherdrang“ beschäftigen soll. Und dann wird die Moral den Experten dafür, den Juristen, den Moraltheologen in sogenannten Ethik-Kommissionen zugeschoben. Und natürlich den Brüdern in der Abteilung Politik.

Diese aber haben auch keine Moral, denn ihr Handeln wird von Sachzwängen bestimmt. Wenn sie heikle moralische Entscheidungen fällen sollen, wie z.B. die Festsetzung von Grenzwerten für Strahlenbelastung, rennen sie wieder zu ihren Brüdern von der Wissenschaft und suchen sich eine Expertenkommission zusammen, die ihnen das nötige statistische Material für die Politik liefert, die sie ohnehin machen.

In Wirklichkeit fällen sie aber die Entscheidungen, die die Herren von der Kapitalfraktion von ihnen erwarten. Wenn die sagen, diese oder jene Spitzentechnologie muß sein, weil die USA oder Japan sie hat – sonst verlieren wir unsere Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt -, dann kuschen die Politiker, und die Wissenschaftler reiben sich die Hände.

Politiker und Wissenschaftler sind gefühllos…
Doch nicht nur wegen ihrer Unmoral ist das Vertrauen in die Wissenschaftler und Politiker lebensgefährlich, sondern auch wegen ihrer Herz- und Phantasielosigkeit. Denn um diese Art von Wissenschaft betreiben zu können, müssen sie sich nicht nur aufspalten in einen forschenden Kopf und den Rest, sondern müssen alle tiefen Gefühle in sich abtöten. Sie können zwar immer wirksamere Zerstörungstechniken erfinden, es fehlt ihnen aber die Vorstellungskraft für das, was diese Technik anrichtet. Emotional sind die meisten von ihnen verkrüppelt. Wenn aber Gefühle und Vorstellungen wie auch die sinnliche Erfahrung dem Verstand keine Orientierung mehr geben, bleibt auch dieser schließlich auf der Strecke.

…und versagen angesichts der Folgen ihres Tuns.
Das war für mich die verblüffendste Erkenntnis, als ich nach Tschernobyl die Reaktionen der „verantwortlichen“ Experten in Wissenschaft und Politik vernahm: Das waren nicht nur Leute ohne Moral und Herz, sie hatten auch keinen Verstand. Es muß eine Frau doch stutzig machen, daß ausgerechnet diejenigen, die seit Jahren die Notwendigkeit solcher High Tech propagieren, die die „Risiken und Chancen“ der Atomtechnik seit Jahren exakt gemessen und berechnet haben, nun plötzlich, wo das Berechnete eingetreten ist, die Augen zumachen und rufen: „April, April, alles gar nicht so schlimm, was die Geigerzähler da anzeigen. Was sind schon 200 Becquerel, oder 2000, oder gar 100.000?“ Da reden sie immer noch davon, daß das alles „unbedenklich“ sei. Nur keine Panik!

Wenn aber das geschieht, was nach ihren exakten Berechnungen praktisch nie geschehen kann, ein „Störfall“, ein „Ereignis“ – sie wagen ja das Wort Katastrophe nicht in den Mund zu nehmen, weil das Volk sonst in Panik gerät -, dann fällt ihnen nichts anderes ein als der Ruf nach den alten vorwissenschaftlichen Hausfrauentechniken: Wascht den Salat! Laßt die Kinder in der Stube! Wascht eure Schuhe! Trinkt keine Milch! Geht nicht in den Regen!

An diesem merkwürdigen Verhalten wird eines sonnenklar: Diese Naturwissenschaftler können mit ihrer Wissenschaft zwar das Leben auf der Erde zerstören, sie können auch genau berechnen, was sie angerichtet haben. Sie können aber das Leben nicht wieder herstellen. Sie können höchstens überall Verbotsschilder aufstellen. Und die Politiker sind zu feige, die politischen Schlüsse aus den exakten „objektiven“ Meßdaten zu ziehen und dem Volk zu sagen, daß es dazu verdammt ist, in der Hölle zu leben.

Plötzlich taucht eine ganz neue Magie bei diesen Herren auf. Nachdem die Magie der Zahlen und Statistiken sich als Bluff erwiesen hat und das Volk ihnen nicht mehr glaubt, greifen sie auf kindliche Rituale zurück, veranstalten öffentliche Salat-Eß-Zeremonien, die Frau des Bundeskanzlers muß vor den Fernsehkameras Rhabarber auf dem Wochenmarkt kaufen. Die PR-Manager dieser Herren überschütten die Medien und das Volk mit einer Flut von Beschwörungen, daß alles wieder normal sei, daß es überhaupt keinen Grund zur Besorgnis gäbe, daß die Wahrscheinlichkeit von Langzeitschäden „aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse und vorliegender Meßdaten“ äußerst gering sei. So in einer Anzeige der Bundesärztekammer in der Frankfurter Rundschau vom 12.6.86, bezahlt von der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke.

High Tech ist Kriegstechnik.
Es ist klar geworden, daß es keine friedliche Nutzung der Atomtechnik – aber auch nicht der anderen „Zukunftstechnologien“ wie Gen- und Biotechnik – gibt. Diese Technologien sind Kriegstechnik, nicht nur deshalb, weil sie ein Ergebnis der Militärforschung sind, und nicht nur dann, wenn daraus Bomben und Raketen gemacht werden, sondern weil ihre Methode eine lebens-, frauen- und naturzerstörerische ist. Ihr Prinzip beruht auf der Zerschlagung lebendiger Zusammenhänge, sie sind auf die Unterwerfung der Natur, der Frauen und fremder Völker gerichtet, koste es, was es wolle. Wer angesichts von Tschernobyl immer noch von „friedlicher Nutzung der Kernenergie“ redet, ist ihr Komplize und gehört zu dieser „Internationale der Krieger“.

Wenn ein grundsätzliches Umdenken in bezug auf diese Technik nicht stattfindet, besteht die Gefahr, daß versucht wird, die Schäden, die durch die eine Kriegstechnik verursacht werden, durch eine andere Kriegstechnik zu reparieren, ohne daß die Folgen dieser neuen Technik abzusehen wären. So könnte die Katastrophe von Tschernobyl von der chemischen Industrie und den Betreibern der Bio- und Gentechnologie dazu genutzt werden, die Umstrukturierung der deutschen Landwirtschaft von der Nahrungsproduktion auf die Produktion von Industrierohstoffen voranzutreiben.

Sie haben Angst.
Alle diese hektischen Versuche, das Volk zu beruhigen, zeigen nur eines: Sie haben Angst davor, daß das Leben auf dieser Erde und die Zukunft zerstört werden. Sie haben Angst vor unserer Angst, vor unserer Wut. Darum versuchen sie, uns zu beruhigen. Nur keine Panik! Aber wir lassen uns nicht mehr beruhigen. Unsere Wut, unsere Angst haben uns die Augen geöffnet. Sie geben uns die wichtigste Energie, die wir jetzt brauchen, die wir mehr brauchen als Atomenergie oder irgendeine andere alternative Energie zur Aufrechterhaltung unseres Lebensstandards.

Wenn geschieht, was nicht geschehen kann, wenn der Ernstfall eintritt, dann sagen die „Verantwortlichen“: Das haben wir doch schon immer gesagt, daß es ein Restrisiko gibt. Auch das Auto verlangt doch seine Opfer. Nicht wir sind schuld, ihr selbst seid schuld, denn wir haben euch über die Gefahren aufgeklärt.
Und sie haben recht.

Wir haben ihnen zu lange geglaubt. Wir haben ihnen unsere Kinder, unsere Arbeit, unser Geld, unsere Stimmen gegeben und haben sie ihre Männer-Macht-Spiele treiben lassen. Wir haben uns „nur“ um den Alltag gekümmert. Nun bedeutet dieser Alltag, daß wir die nächsten dreißig Jahre und länger die Folgen von Tschernobyl wegräumen oder erleiden müssen.

Es geht um die wirklich lebenswichtigen Fragen.
Es ist klar geworden, daß nicht diejenigen, die einen freiwilligen Ausstieg aus dem Fortschrittswahn und aus der Warengesellschaft gefordert haben, die Gesellschaft „zurück in die Steinzeit“ führen, sondern die Befürworter und Betreiber dieser Technik. Sie – und nicht die Warner – sind die Väter des Mangels. Sie haben es fertiggebracht, daß Kinder mitten im Warenreichtum keine Milch mehr trinken und kein grünes Gemüse essen können.

Die Atomtechnik, aber auch die Gen- und Computertechnik werden unter anderem damit gerechtfertigt, es würde zu lange dauern, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern und eine Alternative zur vorherrschenden Technik zu entwickeln und zu einem anderen Naturverhältnis zu kommen. Auch Frauen vertreten häufig dieses Argument und plädieren für „pragmatische“, kurzfristige technische Lösungen ihrer Probleme. Nun aber haben wir plötzlich Zeit! Nun müssen wir dreißig Jahre warten, bis Cäsium 137 um die Hälfte weniger strahlt, die Halbwertzeit von Strontium 90 ist 28 Jahre, die von Plutonium 239 24.000 Jahre. Es sind die Pragmatiker, die „Realisten“, die Befürworter schneller Lösungen, die uns dies beschert haben. Darum ist es endlich an der Zeit, die lebenswichtigen Fragen zu stellen und die Entscheidungen über unsere Zukunft nicht mehr den „Verantwortlichen“ in Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Militär zu überlassen. Es ist Zeit, den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie und einen Stopp der Gen- und Reproduktionstechnologie zu fordern, und es ist schließlich Zeit, ein anderes Verhältnis zur Natur herzustellen, bei dem sie nicht mehr als Materiallager für die Profit- und Technikmaximierung angesehen wird, sondern als ein lebendiges Wesen. Es ist längst Zeit, das koloniale Verhältnis zur Dritten Welt aufzuheben und die bevormundenden Mann-Frau-Verhältnisse zu ändern.

Lebensstandard oder Leben?

Wie aber haben sie es erreicht, daß wir ihnen so lange geglaubt haben? Einer der Gründe ist die Gewalt, die sie angewendet haben, um sich eine beherrschende Stellung über fast alle Lebensbereiche aufzubauen.

Ein anderer Grund ist unsere eigene, stillschweigende Komplizenschaft mit dem System. Die herrschenden Männerbünde in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik haben einen Brückenkopf in jeder und in jedem von uns errichtet. Der zentrale Pfeiler dieses Brückenkopfes ist die Lebenslüge, daß wir beides gleichzeitig haben könnten: das Leben und einen stets steigenden Lebensstandard. In Wirklichkeit haben wir unser Leben geopfert für die Erhöhung des Lebensstandards. Wir haben geglaubt, wir könnten immer mehr Waren, immer mehr Komfort und Bequemlichkeiten haben – und gleichzeitig ein „glückliches Leben“ in einer heilen und unverseuchten Natur, im Frieden mit anderen Völkern, im Frieden zwischen Männern und Frauen.

Tschernobyl hat uns unmißverständlich gezeigt, daß beides zusammen nicht geht. Wir können den Kuchen nicht essen und gleichzeitig behalten. Denn mitten im Warenreichtum leben wir jetzt im Mangel, wie im Krieg. Der Mangel ist auch nicht nur etwas Psychisches, ein Gefühl von Leere und Verzweiflung, er ist wieder buchstäblich materieller Mangel am Lebensnotwendigen: an gesundem Essen, an unverseuchter Milch, an Plätzen, wo Kinder unbefangen liegen können, ohne Angst vor „Gift“.

Solange wir an dieser Lebenslüge festhalten, solange wir glauben, wir brauchten den ganzen Konsum, von der elektrischen Zahnbürste über die Computer bis zum Auto und dem Urlaub im Süden, um uns für all das Leid zu entschädigen, daß uns das System antut – solange haben die Herrschenden ein leichtes Spiel mit uns. Denn dann wissen sie, daß sie stets einen Markt für ihre Waren haben werden und daß sie uns mit der Propagandalüge erpressen können, ohne Atomstrom gingen bei uns die Lichter aus. Dann wissen sie, daß uns der Lebensstandard wichtiger ist als das Leben, der Konsum wichtiger als die Freiheit.

Andere Technik?
Andere Verhältnisse!

Doch auch diejenigen, die dem Volk sagen, wir brauchten nur die Atomkraftwerke durch andere Energieträger zu ersetzen, durch Sonnenenerie, Kohle oder Öl, und hätten dabei keine Einbuße unseres gewohnten Komforts zu befürchten, setzen diese Lebenslüge fort. Denn auch diese Energien sind nur um den Preis weiterer Umweltverschmutzung oder weiterer Ausbeutung der Dritten Welt zu haben. Weitere Energiegewinnung aus Kohlekraftwerken zerstört die Wälder, Energie aus Öl und Gas erschöpft nicht nur die Vorräte für uns, sondern auch für die Dritte Welt. Auch ausreichend Sonne gibt es nicht in diesen nördlichen Breiten, um mit Sonnenenergie „den gewohnten Komfort“ aufrechtzuerhalten. Um aber europäische „Sonnenplantagen“ in Afrika oder Arabien abzusichern, müßten die dortigen Regierungen in Abhängigkeit von den Industriestaaten gehalten werden. Also: mehr Kolonialismus.

Kurz, jedes Umsteigeszenario, das das Energieproblem nur als technisches Problem behandelt und nicht als ein Problem der Änderung der Verhältnisse, wird nur zu einer Fortsetzung der Ausbeutung der Natur – vielleicht an anderer Stelle -, der Dritten Welt und der Frauen führen. Anstatt sich um andere, menschen- und naturfreundliche Verhältnisse zu kümmern, sind die Technopatriarchen in allen Parteien fasziniert von der Entwicklung neuer Alternativtechnologien. Der Machbarkeitswahn geht weiter.

Wer nichts als den technischen Ausstieg aus der Atomenergie fordert, ohne über die zerstörerischen Grundlagen unseres Lebensstandards nachzudenken, weil er diesen Lebensstandard nicht aufgeben will, der wird insgeheim froh sein, daß uns die „Verantwortlichen“ so beruhigende Zahlen nennen, der wird auch nicht lange kritisch fragen, ob die Zahlen stimmen oder nicht, denn die Experten nehmen ihm nicht nur die Wut und die Angst, sondern auch das schlechte Gewissen. Dann wird es möglich sein, daß wenige Wochen nach einer der größten Katastrophen des Industriezeitalters wieder zur sogenannten Normalität übergegangen wird. Und „die da oben“ werden schon dafür sorgen, daß die Leute genug „Brot und Spiele“ haben, damit sie den Verlust des Lebens nicht merken.

Wenn wir nicht wollen, daß dies geschieht, müssen wir die fatale Illusion aufgeben, daß wir beides haben könnten: stets steigenden Lebensstandard, Komfort und Wohlstand und ein gutes Leben. Wir müssen endlich sagen, daß uns die Drohung, bei der Abschaltung der Atomkraftwerke ginge unser Komfort zurück, nicht schreckt, daß uns das Leben wichtiger ist als noch mehr Autos, Computer, Waren aller Art. Erst dann sind wir nicht mehr erpreßbar und werden den langen Atem haben, den wir brauchen, um die Barbarei, die sie Zivilisation nennen, zu überwinden. Erst wenn wir klare Verhältnisse in uns selbst geschaffen haben, das ewige Hinken nach zwei Seiten aufgeben und die Brückenköpfe des Systems samt seiner scheinbaren Glücksverheißungen in uns abgerissen haben, können wir auch längere Zeit widerstehen.

Bloße Radikalität der Worte, bloße Demonstrationen von – meist – hilfloser Wut und Verzweiflung, bloße symbolische Verletzungen ihrer Gesetze und Bauzäune schrecken die herrschenden Männerbünde nicht, solange ihre Brückenköpfe in uns intakt bleiben. Wohl aber schreckt es sie, wenn aus unserer heißen Wut eine kalte Wut wird, die Entschlossenheit, eine Technologie nicht nur durch eine andere zu ersetzen, sondern andere Verhältnisse zu schaffen, in denen die Sehnsucht nach Leben nicht immer wieder durch noch mehr Warenkonsum erstickt wird.

Maria Mies

Maria Mies ist Soziologin und seit 1969 praktisch und theoretisch in der Frauen-, Dritte-Welt- und Umweltbewegung engagiert. Von 1972 bis zur Emeritierung 1993 war sie Professorin an der Fachhochschule Köln. Gekürzter Nachdruck aus: M. Mies/V. Shiva: „Ökofeminismus“, Rotpunktverlag, Zürich 1995.


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