Hans-Peter Gensichen

Bewegung ohne Ideen ist keine Bewegung mehr

„Schrumpfung statt Wachstum“ ist inzwischen Realität, doch die Umweltbewegung hat das noch nicht als Chance begriffen und macht mit alten Themen weiter.

Die meisten Menschen lassen sich „nur von den Dingen anspitzen, die ihnen stinken“, sagt Dr. Hans-Peter Gensichen, Pfarrer aus Wittenberg. Der 57-Jährige ist Kurator der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU). Von 1975 bis 2001 leitete Gensichen das Kirchliche Forschungsheim Wittenberg, das Umweltzentrum der evangelischen Kirche in Ostdeutschland. Das Interview führte Nick Reimer.

Herr Gensichen, die Bundesstiftung Umwelt feierte kürzlich ihr zehnjähriges Jubiläum. Wer war eingeladen?
Alle, die irgendwann einmal Fördermittel beantragt haben – also von Verbänden, die Umweltbildung machen, bis zu Herrn Hipp, der Babynahrung herstellt.

War das die Umweltbewegung?
Die Frage habe ich mir auch gestellt. Die bunte Truppe war immerhin ein Querschnitt von der Umweltbewegung, die von einer großen Stiftung Geld bekommt.

Geld allein macht noch keine Bewegung aus. Was kennzeichnet Umweltbewegung?
Bewegung ist davon gezeichnet, dass sie Pioniergedanken gebiert und als Pioniertaten in die Gesellschaft einbringt. Die Zeit der Pionierleistungen zum Thema Umwelt scheint allerdings vorbei. Das gilt für den Osten wie für den Westen. Die Gesellschaft hat heute in sich das verankert, was Umweltbewegung einst an sie herangetragen hat. Die Elbe ist jetzt sauberer, das Atomausstiegsgesetz unterschrieben, Umweltschweinereien werden geahndet und meinen Grünen Punkt gebe ich jetzt auch immer ordnungsgemäß ab. Aus der Verbreitung der Pioniergedanken ist eine Massenhaftigkeit der Gedanken geworden – eine gesellschaftliche Norm also.

Dann hat die Umweltbewegung also gesiegt?
Die kleinen Siege bergen eine große Niederlage: Unsere Gesellschaft glaubt heute, Umweltbewegung sei nicht mehr nötig. Der Staat hätte das kapiert, was die Bewegung einstmals eingefordert hat.

Hat er?
Partiell sicher. Das bedeutet ja aber nicht, dass es keine Umweltprobleme mehr gibt. Die sind genauso akut wie vor 20 Jahren, haben sich nur verlagert.

Folgt man ihrer Logik, braucht es doch nur neue Pionierleistungen!
Die Verbreitung der Pioniergedanken hatte zwangsläufig zur Folge, dass es im „Gehirn“ der Umweltbewegung zur Verflachung kam. Verflachung bedeutet Stillstand. Im Strudel der Veränderungen ist der Umweltbewegung nicht viel Neues eingefallen. Bewegung ohne Ideen ist aber keine Bewegung mehr.

Welche Probleme der Gegenwart und Zukunft schreien denn nach Pionierleistungen?
Seit 300 Jahren wird uns gesagt, Gesellschaften können nur funktionieren, wenn sie wachsen. Der Club of Rome hat aber 1972 erstmals gesagt, dass das größte Umweltproblem das Wachstum ist. Wir wachsen uns kaputt. Erstmals erleben wir jetzt in Ostdeutschland eine Gesellschaft, die schrumpft. Die Leute gehen dorthin, wo Arbeit ist – in den Westen. Die Folge: Vom Intelligenzquotienten über den Altersdurchschnitt und das Arbeitsaufkommen bis zur Bevölkerungszahl, von der Kaufkraft bis zur Zahl der Schulen oder Ärzte – alles schrumpft. Wie eine Gesellschaft unter den Bedingungen von Schrumpfung funktionieren kann, wissen wir aber nicht. Umweltbewegung hat also in Ostdeutschland ein phantastisches Experimentierfeld, auf dem man das umsetzen kann, was die Umweltweisen vom Club of Rome uns als Lösung der Menschheitsprobleme geraten haben.

Nimmt das die Umweltbewegung wahr?
Natürlich. Auch die Umweltaktivisten müssen jetzt ihre Kinder im Nachbarort zur Schule schicken, weil die im eigenen Ort wegen Kindermangel dicht gemacht hat. Diese Schrumpfung ist inzwischen ein Weltbild. Aber die Umweltbewegung hat das noch nicht als Chance für Pionierleistung begriffen. Ost wie West – sie nimmt das allenfalls als schlimmen Sachverhalt wahr, mogelt sich durch und macht in alten Themen weiter.

Sie fordern, dass Umweltbewegung gesellschaftspolitischer, gesellschaftsphilosophischer wird?
Ja. „Libellenzähler“ sind wichtige Leute, die gebraucht werden. Aber das reicht nicht. Wenn die Naturschützer einen Truppenübungsplatz aufkaufen wollen, um daraus ein Naturschutzgebiet zu machen, ist das ein tolles Ding. Aber das ist punktuell und ändert eben nichts an gesellschaftlichen Strukturen, die Truppenübungsplätze hervorbringen.

Als Geschäftsführer des Kirchlichen Forschungsheims sind Sie ja auch Teil der Bewegung. Wie versuchen Sie denn, solcherlei Anspruch umzusetzen?
Wir versuchen mit punktuellen Projekten Bögen in die Gesellschaft wachsen zu lassen. Ein Beispiel: Wir haben gerade ein Projekt, das „Biotopverbund durch Kirchenland“ heißt. Eigentlich ist das nichts anderes als Hecken pflanzen. Das ist gut für die Bodenfeuchtigkeit, gut gegen Erosion oder gut als Lebensfeld für Kleintiere. Andererseits ist das Heckenpflanzen aber eine Vorarbeit für den biologischen Landbau. Natürlich können wir nicht sagen: Wir wollen hier Ökobauern ansiedeln. Die Diskussion „Wie wollen wir uns und die Welt künftig ernähren?“ können wir dadurch aber schon hier vor Ort in Gang bringen und moderieren. Und vielleicht hat die ja zur Folge, dass jemand nicht in Bayern Arbeit annimmt, sondern hier eine neue Form von Landwirtschaft probiert.

Wie bewerten sie die organisatorische Struktur der Umweltbewegung?
Hat sie denn noch eine Struktur? In Sachsen-Anhalt zumindest ist keine erkennbar. Das, was etwa der BUND oder die Grüne Liga hier pflegen, ist bestenfalls eine „Nichtstruktur“. Die Partei der grünen Bewegung macht schon das Richtige, indem sie immer wieder sagt, das Umweltthema ist unser Kernthema, und sich ansonsten immer wieder zwischen Themen hin- und herbewegt, von denen sie nicht so richtig weiß, ob sie die was angehen. Dieses Hin und Her ist eine vernünftige Sache, um tatsächlich die Verbindungen zwischen den Themen und dem Kernthema zu finden. Also Struktur… Immer weniger Leute gehen wählen. Das heißt im Umkehrschluss doch, dass immer weniger Leute ausreichen, um bei Wahlen den eigenen Mann in demokratischen Entscheidungsstrukturen unterzukriegen. Wir leben also in einer Zeit, wo immer kleinere Gruppen – wenn sie denn stabil da sind – ausreichen, um etwas zu bewegen. Oder wenigstens Bewegung zu machen. Man kommt plötzlich eher mit seinen Themen in Zeitungen hinein. Man kommt plötzlich eher an Fördergeld heran. Das Problem ist nur: Zumindest eine thematische Kerngruppe muss stabil da sein.

Als DBU-Stiftungsrat haben Sie selbst großen Einfluss auf die Strukturen der Umweltbewegung.
In der BSE-Krise habe ich mich gefragt: Was machen wir denn jetzt? Wo sind die Umweltverbände, die Geld zu diesem Thema beantragen. Ich habe bei verschiedenen Umwelt- oder Anbauverbänden angerufen – und mich gefragt: Was diskutieren die denn jetzt noch? Die wissen doch, wohin der Zug fahren kann! Stattdessen musste ich eine große Lahmheit konstatieren.

Die Stiftung hat also eine ganz tolle Förderpolitik, und für eventuelle Schieflagen ist die Umweltbewegung verantwortlich?
Nein, so will ich mich nicht verstanden wissen. Ich bin mit der Mittelvergabe alles andere als zufrieden. Warum soll eine Firma, die einen supertollen, extrem leisen Rasenmäher herstellen möchte, von uns gefördert werden? Wenn der Rasenmäher so toll ist, wird er sich auch ohne Fördermittel auf dem Markt durchsetzen. Aber die Stiftung ist ja nun einmal hauptsächlich für die Wirtschaft eingerichtet.

Was würden Sie lieber finanzieren?
Bildungs- oder Kommunikationsprojekte. Denkfabriken.

Warum tun Sie es dann nicht?
Machen wir ja, aber eben nur zu einem ganz geringen Teil. Wenn solche Anträge eingereicht werden, gibt es bei vielen Kuratoren Vorbehalte. Was werden die wohl mit dem Geld machen? Wenn jemand das nicht tropfende Öl entwickeln möchte, wissen das die Kuratoren zwar auch nicht. Aber das ist technisch, hat mit Forschung zu tun und ist irgendwie griffig. Wenn es aber darum geht, an einem Gymnasium eine neue Bildungsmethode in Sachen Umwelt zu fördern, fehlt die Kraft, sich Sinn und Resultate vorzustellen. Viele Umweltbildungsprojekte werden abgewiesen, weil es im Kuratorium eine Angst vor „unheimlichen Machenschaften“ gibt.

Groß in Mode ist gerade das „Fittmachen für die Zukunft“. Was muss die Umweltbewegung tun, um zukunftsfähig zu sein?
Sie muss zukunftsfähig sein. Wer das Postulat der Nachhaltigkeit nicht nur predigt, sondern auch umsetzt, der ist auch per se zukunftsfähig…

Das mag ein philosophischer Ansatz sein, hat aber weniger mit der Realität zu tun.
Sicherlich, das zu Grunde gelegt, ist Umweltbewegung heute nicht zukunftsfähig. Im Umkehrschluss kann das aber nur bedeuten: Wir gehen die Themen, die wir als richtig erkannt haben, falsch an. Und jetzt wollen Sie bestimmt von mir wissen, wie man es richtig macht!

Ja, natürlich. Haben Sie eine Idee?
Das ist schwierig. (lange Pause) Von der Soziologie her ist es wohl so, dass man am ehesten Bürgerinitiativen zusammen bekommt. Initiativen, die sich bei einem Thema ad hoc bilden und dann wieder zerfallen. Solche Initiativen aber machen noch keine Umweltbewegung aus. Es muss deshalb Kerngruppen geben, die in der Lage sind, daraus größere Impulse abzuleiten.

Umweltbewegung als Dienstleister für Bürgerinitiativen?
Genau so. Leute die sich mit Vernetzung auskennen, mit Kampagnen, mit Pressearbeit. Eine gewisse handwerkliche Kernkompetenz also. Aber eben nicht nur das. Ich meine mit Impuls auch, aus lokalen Engagements neue Pionierarbeiten für die Gesellschaft zu generieren.

Wenden wir uns von der Umgehungsstraße zum Treibhauseffekt: Welchen Beitrag kann die Umweltbewegung zur Lösung der globalen Probleme leisten?
Da beobachte ich mich selbst: Mir fällt es schwer, Interesse für ein polnisches oder tschechisches Problem aufzubringen, obwohl mich das ja angesichts der EU-Erweiterung schon irgendwie selbst betrifft. Meine Betroffenheit reicht oft nur bis zur Grenze. Wenn ich mich „hochrechne“, ist bei den globalen Problemen tatsächlich nicht viel von der Umweltbewegung zu erwarten.

Obwohl die ungleich schwerwiegender sind als die Umgehungsstraße.
Meine Frau betreibt einen Weltladen. Bilanzieren wir einmal, dass da sowieso nur die Interessierten hinkommen. Wenn Sie denen aber einen Zettel mit Informationen zu globalen Problemen oder Projekten in die Hand drücken, wehren die ab. Die meisten Menschen lassen sich nur von den Dingen anspitzen, die ihnen stinken. Und das ist eben nicht die Dürre in Afrika, sondern die Umgehungsstraße.

Aus: DER RABE RALF – Die Berliner Umweltzeitung, Dezember 02 / Januar 03

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