Vollbremsung oder Klimacrash

Aus DER RABE RALF, August/September 2023, Seite 12/13

Die Zeit zur Begrenzung der Klimakatastrophe läuft ab

Karikatur: Gerhard Mester/​Wikimedia Commons

Optimismus beruht bekanntlich auf Mangel an Information. Oder auf einem Übermaß an nicht relevanten Informationen. Die zukunftsbedrohende Vielfachkrise der Menschheit verschwindet hinter einem Schleier von symbolischer Politik und Nebensächlichkeiten. Die Klimaschreckensmeldungen aus aller Welt und die Mahnungen und Warnungen der Wissenschaft und der Klimaberichte erreichen immer nur kurz die mediale Oberfläche, um gleich wieder in einem Meer von diffiziler populistischer Manipulierung und kunterbunter Abstumpfung zu versinken. Weder die Gesellschaft noch die Politik haben den Ernst der Lage begriffen, geschweige denn, dass man zu einem wirklichen Kurswechsel bereit wäre. Entsprechende Aufrufe, wie die gemeinsame Erklärung von Wissenschaftlern, Klimaaktivistinnen und Bürgerrechtlern zur Räumung von Lützerath im Januar, bleiben ungehört. Die Stimmen des fossilen „Weiter so“ sind noch viel zu laut in der Gesellschaft und die Macht der Fossillobby scheint ungebrochen.

Statt das Klimagesetz einzuhalten, wird es geändert

Es ist ja leider so, dass das Überlebensthema Klima- und Umweltschutz in den letzten drei Jahren durch andere Themen in den Hintergrund gedrängt wurde – erst durch die Corona-Pandemie und dann durch den Krieg, die vermeintliche Energiekrise und die Aufrüstungsdebatte. Das führte zu einem klimapolitischen Rollback und dazu, dass die Verpflichtungen des Pariser Klimavertrags nicht eingehalten werden, auch in Deutschland nicht, sodass nun eine ungebremste Eskalation der Klimakatastrophe droht.

Es ist notwendig, weiter auf dieses Defizit der Klimapolitik und auf die drohende Gefahr einer nicht mehr rückholbaren Klimakatastrophe hinzuweisen und die Öffentlichkeit zu mobilisieren, um die Politik endlich zu einem dem Problem angemessenen Handeln zu bewegen.

Die Aktivisten der Letzten Generation, mit denen wir solidarisch sein sollten (obwohl ich die Beschädigung von Kunst ablehne), weisen mit ihren spektakulären Aktionen vor allem auf die Fortführung einer rechtswidrigen, unverantwortlichen Verkehrspolitik hin, die fortwährend gegen die Vorgaben des Klimaschutzgesetzes verstößt. Mittlerweile hat der BUND, der größte Umweltverband Deutschlands, wegen Nichteinhaltung des Klimagesetzes Klage gegen die Bundesregierung beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg eingelegt. Es ist höchste Zeit, zu klären, wer hier eigentlich die Gesetzesverletzer sind.

Die Reaktion der Bundesregierung auf die Verstöße war allerdings nicht die zügige Einhaltung des Klimagesetzes. Stattdessen wurde das Gesetz geändert. Bewertungsgrundlage ist jetzt nur noch das CO₂-Gesamtbudget, sodass sich einzelne Bereiche wie der Verkehr nicht mehr verantworten müssen. Das sind Taschenspielertricks. Es gilt unverändert die Taktik: Ausweichen und auf die lange Bank schieben. Der Klimaschutz muss aber endlich den Vorrang erhalten, der ihm in der gegenwärtigen kritischen Lage – der Gefahr einer sich selbst verstärkenden Erderhitzung durch das Überschreiten von Kipppunkten – gebührt.

Letzte Generation sind wir eigentlich alle

Hier hat die „Letzte Generation“ in letzter Zeit den Staffelstab übernommen und sehr mutig und fantasievoll das Thema wieder nach vorne gebracht. Und keinesfalls nur mit Klebeaktionen, wie uns die bürgerlichen Medien weismachen wollen, sondern mit einer Vielzahl unterschiedlicher Aktionsformen, auch in unserer Region.

Zum Beispiel die Beteiligung an den Protesten gegen die Tesla-Autofabrik bei Erkner und das TVO-Straßenbauprojekt in der Wuhlheide. Oder das symbolische Abdrehen der Öl- und Gasversorgung etwa an der Raffinerie Schwedt. Oder die Blockade des Hamburger Hafens sowie von Golfplätzen. Oder die farbliche „Verschönerung“ von Ampel-Parteizentralen und RWE-Büros sowie eines Privatjets auf Sylt. Auch andere Gruppen wie „Extinction Rebellion“ orientieren sich neu, wie die Besetzung des Berliner Hotels Adlon und das Entrollen eines großen Transparents „Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten“ zeigten.

Das geht schon alles in die richtige Richtung, nur erfährt man darüber kaum etwas aus den Medien. Unterstützung kommt von Wissenschaftlern, Bürgermeistern, Museumsdirektoren. So manche altkluge Kritik sollte nicht an die Aktivisten gehen, sondern an die Besserwisser, die sich lieber zurücklehnen und zuschauen, obwohl sie doch auch zur letzten Generation gehören, die noch etwas ändern kann.

Es rettet uns kein höheres Wesen und auch kein imaginäres Subjekt der ökologischen Wende aus dem globalen Süden. Von dort werden bald Millionen Klimaflüchtlinge nach Norden aufbrechen, weil ihre Heimat unbewohnbar geworden ist. Die Zeit wird knapp und die Klimawende muss vor allem und zuerst bei uns im Norden stattfinden.

Die Erderhitzung beschleunigt sich

Voriges Jahr lag die globale Mitteltemperatur bereits um 1,26 Grad über dem vorindustriellen Niveau. Mittlerweile nimmt sie um mehr als 0,2 Grad pro Jahrzehnt zu und beschleunigt sich weiter. Große Teile Asiens und Europas ächzen dieses Jahr unter einer Hitzewelle – in Südeuropa bis auf 45, in Südasien gar bis 50 Grad – und leiden unter zunehmendem Wassermangel. Die Gletscher des Himalaya schmelzen rasant.

Die verheerenden Waldbrände in Kanada sind nicht zu löschen. Sie nebeln New York und die Ostküste der USA ein und haben inzwischen auch Europa und höhere Luftschichten erreicht, wo der Rauch die Wolkenbildung verändert und die Ozonschicht schädigt. Die zunehmenden Waldbrände im Norden – auch Sibirien und arktische Gebiete sind betroffen – sind eine zusätzliche Bedrohung für das Klima, stellte das Leibniz-Institut für Troposphärenforschung in Leipzig fest.

Vielfach wird auch eine extreme Erwärmung der Meere und Ozeane beobachtet. Gleichzeitig hat inzwischen eine El-Niño-Phase begonnen, eine periodisch wiederkehrende Wetteranomalie, die die Temperaturen zusätzlich nach oben treibt und für noch mehr Extremwetter sorgt.

Während sich Deutschland in diesem Frühjahr und Frühsommer noch häufig unter dem Einfluss kalter Luft aus dem Norden befand und es öfter regnete, gab es in Spanien und Portugal Hitzewellen und eine Rekorddürre. Die Trockenheit, die auch Frankreich und Italien betrifft, hat dramatische Auswirkungen. Austrocknende Seen und Flüsse, eine sehr hohe Waldbrandgefahr und eine starke Beeinträchtigung der Wasserversorgung und der Landwirtschaft stellen vielerorts schon heute die Existenzfrage.

Auch Deutschland ist keine Insel der Seligen. Europa ist der Kontinent, der sich am schnellsten erwärmt. Generell ist die Erwärmung über Land viel stärker als über den Ozeanen. Was passiert, wenn die globale Mitteltemperatur nicht mehr nur um etwa 1,2 Grad erhöht ist, sondern um die zu erwartenden 2,7 oder 3,2 Grad?

„Dann drohen hier sechs Grad Erwärmung“

Der bekannte Klimaforscher Stefan Rahmstorf hat sich dazu in einem Interview mit dem Magazin „Spektrum der Wissenschaft“ geäußert. „Wenn wir global tatsächlich bei drei Grad landen werden, drohen Deutschland etwa sechs Grad Erwärmung“, sagte er. „Landgebiete erwärmen sich etwa doppelt so rasch wie der globale Mittelwert, der zu 70 Prozent aus Meerestemperaturen gebildet wird. Hierzulande ist in der Vergangenheit die Temperatur daher etwa doppelt so stark gestiegen wie im globalen Mittelwert von 1,1 Grad. Wir sind in Deutschland inzwischen bei rund 2,3 Grad Erwärmung angelangt“, so der Wissenschaftler.

Seine größte Sorge ist: „Dass wir unumkehrbare Dinge in Gang setzen. Nicht nur die berühmten Kipppunkte, sondern ganze Kaskaden von Kipppunkten, die dann zum unaufhaltsamen Selbstläufer werden.“

Abschließend stellte der Professor etwas resigniert die polemische Frage, ob denn die sogenannten Entscheidungsträger wenigstens die Zusammenfassungen der Berichte des Weltklimarates IPCC lesen würden. Er stelle immer wieder fest, dass das Wissen bei den Entscheidern unvorstellbar begrenzt sei.

Die Realität überholt die Prognosen

Eine neue Studie namhafter Klimawissenschaftler mit der IPCC-Methodik, aber unter Berücksichtigung der neuesten Forschungsergebnisse kommt zu dem Resultat, dass das CO₂-Budget der Menschheit nur noch halb so hoch ist wie bisher angenommen.

Dazu muss man zweierlei wissen: Das in den Berichten des Weltklimarates ermittelte CO₂-Budget gibt die Höhe der tolerierbaren Rest-Emissionen vor und ist Grundlage der internationalen und nationalen Klimapolitik. Und: Die IPCC-Berichte erscheinen nur alle sechs Jahre und beruhen auf eher vorsichtig bewerteten Forschungsergebnissen des zurückliegenden Zeitraums, die dann durch das Tempo der Veränderungen oftmals schon überholt sind.

Ginge es also nach dem neuesten Stand der Klimaforschung, müsste eigentlich bei der nächsten Weltklimakonferenz, der COP 28 im Dezember in Dubai, ein neues, viel kleineres CO₂-Budget beschlossen werden. Auch die Bundesregierung müsste dann, bei einem nur noch halb so hohen Budget, laut Klimaschutzgesetz ihre Klimaziele und -maßnahmen erheblich verschärfen. Dabei schafft sie es ja nicht einmal, die jetzigen, ungenügenden Verpflichtungen einzuhalten, da Wirtschaftswachstum und Profite großer Unternehmen absoluten Vorrang haben.

Nicht in ein paar Jahren, sondern heute

Wir werden die Klimakatastrophe jetzt begrenzen oder wir werden sie überhaupt nicht mehr begrenzen können, weil sie sich dann verselbständigt hat und selbst verstärkt. Das betrifft den auftauenden Permafrostboden, das schwindende Meereis, die brennenden Wälder – alles Verstärkungen der Erderhitzung, die bereits in vollem Gange sind, aber in den Budgetzahlen gar nicht berücksichtigt werden.

Wir sind weiter völlig ungebremst in Richtung Klimakatastrophe unterwegs. Laut einer aktuellen Studie der Weltmeteorologieorganisation WMO könnte eine Erderwärmung von 1,5 Grad bereits innerhalb der nächsten fünf Jahre erreicht sein und dann eine eskalierende Klimakettenreaktion drohen.

Die weitere Verschärfung der Klimakatastrophe bedroht direkt die Gesundheit und das Leben von Menschen. Jede noch ausgestoßene Tonne CO₂ führt dazu, dass noch mehr Menschen unter Hitzewellen, Hochwasser, Dürren, Hunger und sich ausbreitenden Krankheiten leiden werden. 2022 gab es in Europa bereits 60.000 Hitzetote, in Deutschland waren es 8.000, und das ist erst der Anfang. Jede weitere Tonne CO₂ destabilisiert die Lebensbedingungen der Zukunft weiter – deshalb muss Schluss sein mit dem Kohle- und Autowahnsinn, das sind wir unseren Kindern und Enkeln schuldig.

Man kann eine sich aufschaukelnde Klimakatastrophe nicht später wieder rückgängig machen, genauso wenig wie den Tod. Deshalb müssen wir uns heute für das Leben entscheiden.

Trägheit der Herzen und Strukturen

Ein „Weiter so“ erscheint vielen immer noch als das geringere Übel. Groß sind die interessengeleiteten Trägheitskräfte in der Gesellschaft und bei jedem Einzelnen, eingeübte Routinen von Pflichterfüllung und vorauseilendem Gehorsam.

„Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft“, so formulierte es der französische Philosoph Baudrillard treffend. Und so sind wir wahnsinnig Vernünftigen dabei, die Welt in den Abgrund der Klimahölle zu befördern, nicht aus böser Absicht, sondern aus Trägheit und Bequemlichkeit, weil wir nicht bereit sind, unsere Komfortzone zu verlassen – auch wenn wir schon den Rauch und die Hitze des großen Feuers spüren.

„Wie man die Trägheit der Herzen und Strukturen noch rechtzeitig überwinden kann, ist inzwischen eine Überlebensfrage.“ Es ist schon fünf Jahre her, dass ich den Satz zum ersten Mal geschrieben habe.

Jeder Krieg ist irgendwann zu Ende, doch die Klimakatastrophe beginnt gerade erst und wird eine lebensbedrohliche Dynamik entfalten, die das Überleben der Menschheit gefährdet. Das müssen wir endlich zur Kenntnis nehmen und entsprechend handeln.

Jürgen Tallig

Der Autor war 1989 Mitbegründer des Neuen Forums in Leipzig.

Langfassung dieses Beitrags: www.scharf-links.de/debatte/oekologiedebatte/vollbremsung-oder-klimacrash

Weitere Informationen: www.earthattack-talligsklimablog.jimdofree.com

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